A 22
Irrationale Spannungen

Im Kapitel „Pressefreiheit im Kontext der persönlichen Freiheiten“ wird Noam Chomsky mit den Worten zitiert, „...every year or two, some major monster is constructed that we have to defend ourselves against. There used to be one that was always readily available: The Russians.“ - Doch wer nach Russland fährt, lernt dort freundliche Menschen kennen, die sich als Europäer den übrigen Völkern des Kulturerdteils verbunden fühlen. Positiv fällt eine größere Gelassenheit wie auch eine größere Offenheit auf. Weitgehend fehlt die mitunter bis ins Hysterische gesteigerte Anspannung, welche für die Länder „des Westens“ immer typischer wird. – Eine hypokrisiefreie Sicht hätte auch die wichtige Rolle Russlands als die eines Beschützers des Freiheitshelden Edward Snowden gegen die Bedrohung durch amerikanische Justizbehörden im Fokus – eine Bedrohung mit einem verfassungswidrigen nicht-öffentlichen Gerichtsverfahren unter Missachtung elementarer Rechtsprinzipien.

Noch weit bedenklicher ist der historische Wandel des Russlandbildes in den amerikanischen Medien. Wie im Kapitel A 20. „Das Verhältnis der Kapitalisten zum Leninismus“ aufgezeigt wurde, war dieses Bild im Verlaufe des 20. Jahrhunderts mehreren bemerkenswert schroffen Wechseln unterworfen. Diese 180-Grad-Wendungen umfassen in jedem Fall drei eigentlich unabhängige Elemente, nämlich die Bevölkerung, also „die Russen“, die politische Führung und das politische System. Während der überlangen Präsidentschaft Franklin D. Roosevelts erfreuten sich alle drei, die Russen, die Führung und das kommunistische System einer positiven Darstellung in der Presse sowie in den Hollywood Produktionen. Die Filme aus dieser Ära erweisen sich aus heutiger Sicht als Instrumente  propagandistischer Massenbeeinflussung. Denn anders als es Ayn Rand als gutgläubige amerikanische Patriotin aus voller Überzeugung verkündete, „...  there is no censorship in the United States.” (Zitat in Kapitel A 17. „Establishment und Uniformität“), werden (wie schon in Kapitel A 20. gezeigt) alle Drehbücher und abschließend alle Filmszenen, die das US-Militär oder die Geheimdienste darstellen, im Pentagon zensiert. 

Damit präsentiert sich diese Einrichtung als eines der Instrumente für das Umschalten des Hebels, wenn eine 180-Grad-Wendung der öffentlichen Meinung auf dem Programm steht. Die Umschaltmöglichkeit bedeutet die elementare Macht, darüber bestimmen zu können, wer aktuell zu den Feinden und wer zu den Freunden zu rechnen ist. Weitere Instrumente, um Entscheidungen für eine 180-Wendung in der US-Außenpolitik und bezüglich der Militäreinsätze durchzusetzen, sind der Lobby Apparat und die privaten Medien. Ihre Tätigkeit erscheint nach außen als ein sorgfältiges Abwägen von Sach Argumenten, die zu rationalen Lösungen führen. Doch zeigt bereits der konzertierte, quer durch Fernsehen und Zeitungen einheitliche Charakter vieler Medienkampagnen an, dass die Grundsatzentscheidungen bereits vorab gefallen sind und es lediglich darum geht, dafür Zustimmung beim Bürger zu erzeugen.

Das aber wird per Emotionalisierung durch einseitige Propaganda erreicht. Im Kapitel A 14. „Denkblockaden“ wurde zum Phänomen der aggressiven Stimmungsmache warnend festgestellt: „Gerät in eine solche emotionalisierte Gruppe noch der Initialfunke eines Feindbildes, ist es für jede freie Nutzung des Verstandes zu spät”.  – In keinem Bereich des Staats ist demokratische Kontrolle aktuell so gefährlich defizitär und zugleich so dringend erforderlich wie in den aus Militär, Geheimdiensten und Sicherheitsbehörden bestehenden Kräften der “nationalen Sicherheit”. Dort entscheidet sich, ob es gelingt, die Gewalt durch das rationale Argument als das dem Menschen adäquate Mittel der Auseinandersetzung zu ersetzen. Als Instrumente zur Durchsetzung von politischen 180-Grad-Wendungen spielen auch NGOs eine Rolle. Diese nach ihrer Anerkennung als „wohltätig“ steuerbefreiten Organisationen haben sich zu wirkungsvollen Sprachrohren weltanschaulicher Gruppierungen entwickelt, die es oft nicht bei der Theorie belassen, sondern auch mancherlei Aktionen veranstalten.

Beispielsweise haben die Vertreter von mehreren hundert NGOS eine Parallelkonfernz zu der Konferenz gegen Rassismus und Diskriminierung abgehalten, die wenige Tage vor dem New Yorker Attentat vom 11. September 2001 in Durban/ Südafrika stattfand. Während mit dem 11. September eine der historischen 180-Grad-Wendungen der US-Politik stattfand  - nunmehr gegen islamistische Milizen – hatte die NGO-Konferenz eine ganz und gar andere Wendung – gegen Israel - gehabt. „The final resolution of the NGO conference, which was overwhelmingly adopted, called Israel  a racist apartheid state, guilty of the systematic perpetration of racist crimes including war crimes, acts of genocide and ethnic cleansing ... and state terror against the Palestinian people.” – Die Abschlussresolution der NGO-Konferenz, welche mit überwältigender Mehrheit angenommen wurde, nannte Israel  einen rassistischen Apartheidstaat, schuldig, systematisch rasstistische Verbrechen zu begehen, eingeschlossen Kriegsverbrechen, Genozid, und ethnische Vertreibung ... sowie Staatsterror gegen das Palästinensische Volk / Elihai Braun, UN World Conference against Racism, Racial Discrimination, 2001, in Jewish Virtual Library, Referenz https://www.jewishvirtuallibrary.org/durban-i-un-conference-against-racism-2001

Diese zuvor noch nie gesehene drastisch einseitige  Positionierung einer sehr großen Zahl von NGOs gegen Israel ist infolge des alles beherrschenden  Impakts des unmittelbar folgenden Anschlages vom 11. September politisch so gut wie nachwirkungslos geblieben. Allerdings wissen die Initiatoren des surrealen Spiels von Durban seither, wie leicht sich die Stimmung gegen den jüdischen Staat und damit zugunsten der Palästinenser im Bedarfsfall drehen lässt.

Über soviel Beeinflussung durch die Machtinstrumente des großen Geldes geraten zunehmend die Maßstäbe aus dem Fokus, nach denen sich entscheiden muss, welche anderen  internationalen Kräfte zu den tatsächlichen Freunden der freiheitlich zivilisierten Nationen zu rechnen sind. Denn das sind nicht solche, die zufällig über vorteilhafte strategische Positionen, Ressourcen, interessante Geschäftsmöglichkeiten und Macht verfügen oder die sich gerade als Feinde von Feinden profilieren. Es sind vielmehr solche, welche die freiheitlich-demokratischen Grundwerte, das Prinzip der Fairness und das der friedlichen Koexistenz authentisch vertreten und in kompatibler Weise praktizieren. 

Anders als es Kräfte im Hintergrund der amerikanischen Militärpolitik propagieren lassen, sind Personen (wie Julian Assange), aber auch Gruppen und Staaten, welche eben dieser Propaganda des Pentagon und der US-Geheimdienste kritisch gegenüberstehen, nicht etwa per se als Gefahr für die vielbeschworene nationale Sicherheit zu sehen, sondern in erster Linie als wachsame Mahner, die wichtige Informationen liefern, welche im Mainstream abgefiltert und der Öffentlichkeit vorenthalten werden. 

Während der Diktator und Massenmörder J. Stalin in den Film- und Presse Märchen der Ära von Franklin D. Roosevelt noch der gutherzige „Uncle Joe“ war, taucht die Stereotype von „den Russen“ in den heutigen amerikanischen und anderen „westlichen“ Medien regelmässig im Verbund mit negativen Attributen wie „unzuverlässig“, „nicht vertrauenswürdig" und „aggressiv“ auf. Diese Stereotype bedient nicht etwa die konzeptuelle, auf Logik und Fakten basierende, sondern die archaische perzeptuelle Wahrnehmung mit dumpfer, unterbewusster Assoziation. – „Die Russen“, „nicht vertrauenswürdig“ und „gefährlich“ sind demnach Begriffe, deren „Zusammengehörigkeit“ der „westliche“ Medienkonsument in jahrzehntelangerKonditionierung tief verinnerlicht hat. 

Auch wenn Putin mit der Invasion der Ukraine vom 24.02.2022 erheblich dazu beigetragen hat, solche Vorurteile zu bestätigen, sollte man vor deren kritikloser Übernahme einige Tatsachen über „die Russen“ zur Kenntnis nehmen. - Es gibt keine andere Nation, welche im vergangenen Jahrhundert in einem so entsetzlichen Maße unter Krieg, Bürgerkrieg und Staatsterror zu leiden hatte. Die Zahl der gefallenen russischen Soldaten im 1. Weltkrieg wird auf 1,7 Mio. geschätzt, hinzu kommen ca. 2 Mio. zivile Opfer. Zwischen 5 und 9 Mio Menschenleben kosteten die Oktoberrevolution und der bolschewistische Bürgerkrieg gegen die Demokraten. Die Zahl der Todesopfer unter der stalinistischen Herrschaft wird auf 19,7 bis 21 Mio. veranschlagt und die Anzahl der militärischen und zivilen Opfer im 2. Weltkrieg auf ca. 27 Mio. Die Gesamtzahl für das Jahrhundert beläuft sich somit auf 55,4 bis 60,7 Mio Menschenleben, und zwar bei mittlerer Schätzung – es gibt höhere. Dabei haben „die Russen“ als Nation weder den I., noch den II. Weltkrieg zu verantworten, noch tragen sie Schuld an den Exzessen unter Lenin und Stalin - das waren vielmehr ausnahmslos undemokratische Kräfte innerhalb und außerhalb des großen Landes.

Doch selbst mit dem Ausklang der sowjetisch- planwirtschaftlichen Ära 1991 hatte das Leiden der russischen Nation noch kein Ende gefunden. - Mikhail Gorbachev (*1931, im Deutschen Gorbatschow), der letzte Präsident der im Dezember 1991 aufgelösten Sowjetunion, wird im „Westen“ gemeinhin als Held angesehen, dessen Glasnost und Perestroika genannte Initiativen entscheidend für die Überwindung der leninistischen Planwirtschaft und damit auch der Ost-West-Spannungen gewesen sind. Für den Osten Europas brachte Gorbachev's Reformpolitik endlich die Befreiung nach 46 Jahren Sowjetherrschaft. – Doch bereits während der letzten drei ½ Jahre der Sowjetunion (1988-1991), im Zuge der Reformen Gorbachev's, kam es zu Entwicklungen, die nicht etwa eine behutsame marktwirtschaftliche Öffnung des verkrusteten leninistischen Systems mit sich brachte, sondern einen brutalen Abriss zwar unmoderner, aber funktionierender wirtschaftlicher Ordnungsstrukturen, bevor neue geschaffen wurden. Das Resultat bestand in einer Verarmung der Bevölkerungsmehrheit einerseits und der Anhäufung ungeheuren Reichtums in den Händen weniger Profiteure andererseits, also in Kapitalismus pur.

Das verkündete Ziel, die schwerfälligen Staatsbetriebe durch private Unternehmensgründungen zu ergänzen, wäre (wie in China bereits ab den frühen 1980er Jahren extrem erfolgreich praktiziert, siehe gleichnamiges Kapitel) problemlos gelungen, wenn man eine faire Preisbildung als unverzichtbare Systemvoraussetzung Der Marktwirtschaft vor allen anderen Maßnahmen behutsam eingeführt hätte. Das sind Routine Übungen, die jeder Betriebswirt beherrscht, denn in der Marktwirtschaft müssen mittlere und große Betriebe in ihrem internen Rechnungswesen und Controlling zunächst die Produktionskosten für ihre Erzeugnisse (die Stückkosten) ermitteln. Erst dann können sie diese am Markt anbieten, nämlich zu einem Preis, der die Eigenkosten abdeckt und noch einen Gewinn einträgt, um weiter überleben und investieren zu können. Die sozialistische Planwirtschaft hatte – nicht etwa System notwendig, sondern aus Bequemlichkeitsgründen - mit willkürlich festgelegten Preisen gearbeitet, welche keine exakten Rückschlüsse auf die Rentabilität einer Produktion oder eines ganzen Unternehmens zuließen. 

Ohne die notwendige Korrektur dieser Willkür Preise aber machte die Perestroika die Staatsbetriebe zum Opfer einer regelrechten Schlachtung – vorhersehbarer Weise und jederzeit vor Ort erkennbar. Der Reporter Peter Stille schildert die Resultate der Perestroika am Beispiel eines Kohlebergbau-Betriebes im sibirischen Kusnezk-Becken im Oktober 1989: “Selbstkostenpreis pro Tonne: 43 Rubel." Verkaufspreis an den Staat: 12 Rubel. Mit jeder Schicht gräbt sich die Zeche Janowskaja tiefer … ins Defizit; man lebt von dem, was man nicht hat. / Peter Stille, Perestroika - nur noch Gerede, 06.11.1989 auf https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-13496600.html  

Zu Sowjetzeiten waren die unechten Preise deshalb ohne gravierende Konsequenzen geblieben, weil der Staat die Defizite einzelner Betriebe aus Überschüssen anderer ausgleiche. Gorbachev schaffte diese ausgleichenden Geldflüsse ab, während er an den nicht kostendeckenden staatlichen Preisvorgaben festhielt. Dadurch finanziell ausblutende Staatsbetriebe fielen während der wenigen Jahre der Perestroika reihenweise einer inoffiziellen sogenannten „spontanen Privatisierung“ zum Opfer. 

Doch für Funktionäre des sozialistischen Systems eröffnete die Perestroika aus dem Stand massenhaft Möglichkeiten der Bereicherung ohne produktive Arbeit. Ein Standmodell funktionierte so, dass Insider eine Firma gründeten, welche von einem Staatsbetrieb Rohstoffe oder Halbfertigwaren zum niedrigen planwirtschaftlichen Preis aufkaufte und sie an einen anderen Staatsbetrieb, der auf diese notwendig angewiesen war, zu einem mehrfachen Preis weiterverkaufte. So in Bedrängnis geratene Staatsunternehmen wurden teilweise über Kreditgeschäfte ganz in den Konkurs manipuliert und gelangten damit in die Hände der Geldgeber, zum Beispiel einer eigens dafür gegründeten Kooperative (vgl. Anders Hentschel, Privatisierung einer Staatswirtschaft, Die Folgen der russischen Privatisierungspolitik in der Jelzin-Ära, Studienarbeit, Europa-Universität Viadrina Frankfurt (Oder) 2010).

“Als Hauptprofiteure der „spontanen“ Privatisierung gelten Betriebsleiter und Plan Bürokraten – also Mitglieder der alten Nomenklatura –, welche sich erhebliche Teile des staatlichen Eigentums aneignung…  Eine weitere Folge dieser Form der Privatisierung war, dass eine Tendenz zu kurzfristigen Gewinnen entstand. Diese lag in der Ungewissheit über die Zukunft der Eigentumsverhältnisse begründet. Dadurch verfolgten die ‚neuen Eigentümer’ keine langfristige Unternehmensstrategie – was wiederum negative Auswirkungen auf die ohnehin miserable Situation der russischen Volkswirtschaft hatte”. / Anders Hentschel, Privatisierung einer Staatswirtschaft, Die Folgen der russischen Privatisierungspolitik in der Jelzin-Ära, Studienarbeit, Frankfurt (Oder) 2010

Gorbachews Reformansatz, welcher in anderen, nämlich konstruktiven und fachkundigen Händen beste Chancen auf eine erfolgreiche Transformation des sozialistischen Systems in eine tatsächliche freie Marktwirtschaft geboten hätte, führte stattdessen in ein Gemisch aus irrationalen planwirtschaftlichen Relikten und Raubtierkapitalismus. Für die Bevölkerungsmehrheit bedeutete dies den Absturz in Verarmung und Entbehrung, für eine kleine Minderheit aber den Aufstieg in eine aus dem Nichts neu entstandene Schicht von Neureichen, meistens abseits wirklicher unternehmerischer Leistung, den seither sogenannten russischen Oligarchen. Für den ersten demokratisch gewählten Präsidenten Russlands (1992 bis 1999) Boris Yeltsin (im Deutschen Jelzin) waren dies denkbar ungünstige Vorgaben. Trotz seiner Bemühungen halbierte sich die Wirtschaftsleistung unter ihm noch einmal, mit der Folge definitiver Not der Bevölkerungsmehrheit und einer Abwanderung aus den zu Sowjetzeiten gut entwickelten Städten Süd-Sibiriens.

Als Vladimir Putin im Jahr 2000 die Nachfolge Yeltsins antrat, übernahm er neben vielen anderen drei tiefgreifende Probleme – eine hohe Auslandsverschuldung, eine ruinierte Wirtschaft und eine wachsende Macht der neureichen Wirtschafts Oligarchen. Nachdem Russland unter Putin alle diese Probleme unter grossen Anstrengungen in den Griff bekommen hatte, tauchten drei neue Probleme auf - die NATO-Expansion, immer neue Wirtschaftssanktionen und die medialen Angriffe aus dem „Westen“ - zu dem Russland bis heute nicht gehören soll. 

Diese Fakten zu „den Russen“ sollen dabei helfen, die gigantomane Aufrüstung der NATO an der Wirklichkeit abzugleichen und damit als das zu verstehen, was sie ist – ein irrationales, verantwortungsloses Spiel mit dem Leben von Millionen von Menschen, das bei den Initiatoren jegliches Lernen aus zwei desaströsen Weltkriegen und jede konstruktive Zukunftsvision vermissen lässt – sehr milde und verständnisvoll ausgedrückt. Selbst eine solche scheinbare Kleinigkeit wie der fortgesetzte Gebrauch des zu Sowjetzeiten noch eine positive Identität stiftenden Begriffs „der Westen“ ist inzwischen unbemerkt zu einem Auslöser völlig unangebrachter Ausgrenzungsreflexe, eines plumpen tribalistischen Mobbings mutiert. Länder des ehemaligen Ostblocks wie Polen oder Rumänien gehören aufgrund ihrer Wendung zur Demokratie inzwischen selbstverständlich zum Westen, Russland aber soll trotz gleichfalls vollzogener Demokratisierung nicht dazugehören. Dabei besteht in durchweg sämtlichen Ländern der Erde dringender Reformbedarf der demokratischen Strukturen und Instrumente (Kapitel „Demokratie als lebendige Idee“ und „Das einkalkulierte Chaos“) – und die USA sind dasjenige Land, von dem eine Rolle als Vorbild erwartet wird und nicht als selbst reformunwilliger Lehrmeister mit dem Prügelstock in der Hand. 

Die für Russland sehr schwierige Zeit vor und nach dem Zerbrechen der Sowjetunion 1991 hatte hervorragende Chancen für eine tiefgreifende Aussöhnung der USA und Westeuropas mit der russischen Nation geboten. Tatsächlich wurde auch eine solche proklamiert, doch substanziell bewegte sich so gut wie nichts in eine integrierende, sehr viel dagegen in eine desintegrierende Richtung. 

Die NATO war mit dem Wegfall der Ost-West-Spannungen definitiv überflüssig geworden und daher umgehend aufzulösen – namentlich als faire Gegenleistung zu der Auflösung der Sowjetunion und ihres Militärbündnisses, des Warschauer Paktes. So sagte der sowjetische Führer M. Gorbatschow bei einem Treffen am 09. Februar 1990 zu US-Außenminister James Baker laut Übersetzungsprotokoll: “It goes without saying that a broadening of the NATO zone is not acceptable.” Baker responds, “We agree with that.” – Es ist (auch) unausgesprochen klar, dass eine Ausweitung des NATO-Gebietes inakzeptabel ist. Baker antwortet, „Wir stimmen dem zu“. / Anna Melyakova (Übersetzerin): Dokument No. 119 of conversation between Mikhail Gorbashev and James Baker, page 675 f., 09.02.1990 

Doch entgegen dieser amerikanischen Zusage und deren öffentlicher Bestätigung, u.a. durch den deutschen Außenminister Genscher (1990 im Presseinterview neben James Baker / Youtube) entgegen auch dem Gebot der Fairness und entgegen dem Gedanken der allseitigen Entspannung wurde mittels der „Falken“ in der US-Politik durchgesetzt, dass das ohnehin stärkste Militärbündnis aller Zeiten ab 1999 Schritt für Schritt nach Osten erweitert und hochgerüstet wurde. Die EU beteiligte sich an dieser Expansionspolitik. Diese musste auf Russland, das sich schon immer als Teil Europas begriffen hat und nach Überwindung der Ost-West-Spannung auf eine Ära der freundschaftlichen Beziehungen eingestellt war, irritierend wirken. Mittlerweile  bedrohen die irrational aufgebauten Spannungen den Frieden. 

Seitens der Falken im US-Kongress stellt diese gänzlich unsensible, irrational aggressive Politik gegenüber Russland zugleich eine grobe Verantwortungslosigkeit gegenüber den Bürgern der NATO-Mitgliedsländer dar, welche die unglaubliche Summe von rund einer Billion Dollar jährlich (auf US-Englisch one trillion) nicht für ein Maximum an Sicherheit bezahlen, sondern für Destabilisierung und Gefährdung. Tatsächlich gesicherter Frieden in Freundschaft und Harmonie wäre für einen kleinen Bruchteil dieser Unsummen zu haben.

Wie weit weg von der zum Greifen nahen Harmonie nach Auflösung der Sowjetunion eine polarisierende, desintegrierende Politik mittlerweile geführt hat, zeigt die Gegenüberstellung der aktuellen Wirklichkeit Anfang 2022 mit dem Text der NATO-Russland-Grundakte von 1997, dem „Founding Act on Mutual Relations, Cooperation and Security between NATO and the Russian Federation“. Dort heißt es in fast freundschaftlichem Ton: „NATO and Russia do not consider each other as adversaries. They share the goal of overcoming the vestiges of earlier confrontation and competition and of strengthening mutual trust and cooperation. The present Act reaffirms the determination of NATO and Russia to give concrete substance to their shared commitment to build a stable, peaceful and undivided Europe, whole and free, to the benefit of all its peoples. Making this commitment at the highest political level marks the beginning of a fundamentally new relationship between NATO and Russia. They intend to develop, on the basis of common interest, reciprocity and transparency a strong, stable and enduring partnership“.. – (Die) NATO und Russland betrachten einander nicht als Gegner. Sie teilen das Ziel, die Reste früherer Konfrontation und Konkurrenz zu überwinden sowie das gegenseitige Vertrauen und die Kooperation zu stärken. Der vorliegende Vertrag versichert noch einmal die Absicht der NATO und Russlands ihrer gemeinsamen Verpflichtung konkrete Gestalt zu geben, ein stabiles, friedliches und ungeteiltes Europa zu bauen, als Ganzes und frei, zum Wohle aller seiner Völker. Diese Verpflichtung, auf dem höchsten politischen Niveau einzugehen markiert den Beginn einer fundamental neuen Beziehung zwischen der NATO und Russland. Sie (,die Vertragsparteien,) beabsichtigen auf der Basis gemeinsamer Interessen, Gegenseitigkeit und Transparenz eine starke, stabile und dauerhafte Partnerschaft zu entwickeln. / Paris, 27.05.1997, Founding Act on Mutual Relations, Cooperation and Security between NATO and the Russian Federation, Referenz: www.nato.int/nrc-website oder www.nato-russia-council.info

Doch bereits 1999, nur zwei Jahre nach diesem bloßen Lippenbekenntnis und noch vor Putins Amtsantritt, setzte die Osterweiterung der NATO ein, zunächst, dem Entfernungsgradienten entsprechend, um Polen, Tschechien und Ungarn – und damit ehemaligen Bündnispartnern der Sowjetunion. 2004 wurden gleich 7 neue Mitgliedsländer aufgenommen, darunter die drei baltischen Staaten Litauen, Lettland und Estland, also ehemalige Sowjetrepubliken, von denen sich Russland erst 13 Jahre zuvor freiwillig gelöst hatte – trotz sehr hoher russischer Bevölkerungsanteile. 

Die Kernfrage, wie Russland diese Expansion bewerten sollte, war diejenige nach dem wahren Charakter der NATO – nämlich als Gegner Russlands oder als freundschaftlicher Partner, wie es die Grundakte von 1997 verkündet hatte. Von der Antwort hing für Russland alles ab – sich von missgünstigen Rivalen oder gar Feinden bedrängt und bedroht zu fühlen oder im Kreis von Freunden geborgen zu werden. Auf psychologischer Ebene war es die Frage, ob Dauerstress durch ständiges Misstrauens oder Vertrauen und Harmonie das zukünftige Zusammenleben bestimmen würde. - Die eigenartig “neutrale” Haltung der USA und ihres Militärbündnisses verunsicherte die Russen zunehmend und veranlasste Vladimir Putin schon kurz nach Amtsantritt im Jahr 2000, Bill Clinton bei einem Staatsbesuch den entscheidenden Vorschlag zu machen, Russland in die NATO aufzunehmen. „Why not“ wurde seine Antwort aus Delegationskreisen wiedergegeben. Ebenfalls wiedergegeben wurde eine nervöse Reaktion in der Delegation. 

Dem konstruktiven Vorschlag standen und stehen die bekannten Kräfte im Hintergrund der amerikanischen Politik schroff ablehnend gegenüber, wie die seitherigen Entwicklungen bestätigen. Zwar haben die USA, teilweise noch mit der Sowjetunion, teilweise mit dem verbliebenen Russland, eine Reihe von Verträgen zur Abrüstung und Rüstungsbegrenzung abgeschlossen, doch wurde die tatsächliche Wirksamkeit dieser Abmachungen von der amerikanischen (korrekt: kapitalistischen) Seite fast regelmässig verhindert oder abgeschwächt – entweder durch Nichratifizieung oder durch Aufkündigung bzw. Rückzug. Das galt für den (SALT I =) ABM Treaty (1972 – 2002), SALT II (1971), START II (1993), den INF Treaty (1987 – 2019) und den Treaty on Open Skies zur gegenseitigen Luftüberwachung (2002 – Mai 2020). Letzterer Vertrag war von besonderem Stellenwert, weil er der gegenseitigen Nachprüfbarkeit der Rüstungs- bzw. Abrüstung Maßnahmen zum Gegenstand und damit der Vertrauensbildung gedient hatte.

Die Aufkündigung oder Nichtratifizierung geschah regelmäßig unter Beschuldigung der russischen Seite, diese hätte gegen den jeweiligen Vertrag verstoßen – während die Russen die Vorwürfe ebenso regelmäßig als erfunden zurückgewiesen. Eine Ausnahme bildete der SALT II-Vertrag von 1979, dessen Nichtratifizierung seitens der USA mit der militärischen Intervention der Sowjetunion in Afghanistan begründet wurde.- Doch die USA intervenierten dort umgehend ihrerseits, indem sie die islamistischen Gegenkräfte mit Waffen belieferten - wie in Vietnam unter maßgeblicher Beteiligung der CIA und unter Einbeziehung des Drogenhandels, wie der Historiker Alfred McCoy aufgedeckt. . „It was during the cold war that the US first intervened in Afghanistan, backing Muslim militants who were fighting to expel the Soviet Red Army. In December 1979, the Soviets occupied Kabul… For the next 10 years, the CIA would provide the mujahideen guerrillas with an estimated $3bn in arms. These funds, along with an expanding opium harvest, would sustain the Afghan resistance for the decade it would take to force a Soviet withdrawal.”. – Es war während des Kalten Krieges, als die USA das erste Mal in Afghanistan eingriffen, indem sie die militanten Moslems unterstützten, welche darum kämpfen, die sowjetische Rote Armee (aus dem Land) zu werfen. Im Dezember 1979 eroberten die Soviets Kabul… Während der folgenden 10 Jahre versorgte die CIA die Mudjahedin-Rebellen mit Waffen im Wert von schätzungsweise 3 Milliarden Dollar. Diese Mittel, zusammen mit (den Einnahmen aus) einer steigenden Opiumernte, bildeten die Existenzgrundlage der afghanischen Widerstandskräfte für die Dekade, die erforderlich war, um einen sowjetischen Rückzug zu erzwingen.. / Alfred W. McCoy, How the heroin trade explains the US-UK failure in Afghanistan, 2018, Referenz: https://www.theguardian.com/news/2018/jan/09/how-the-heroin-trade-explains-the-us-uk-failure-in-afghanistan

Mit solchen Praktiken hat die CIA massiv gegen rechtsstaatliche Grundsätze verstoßen und den ethischen Führungsanspruch der USA in Frage gestellt. Vor diesem Hintergrund wirkt die eingangs des Kapitels angesprochene Monsterjagd gegen ausländische Personen und Gruppen in den Medien extrem hypokritisch. Außer „den Russen“ ist es speziell Vladimir Putin, welchem seit etwa 20 Jahren die Position eines Monsters zugewiesen wird. Das Putin-Bild in den westlichen Medien wird im Wesentlichen durch drei Eigenschaften bzw. Schlagworte bestimmt: unzuverlässig/ durchtrieben, undemokratisch und machthungrig, wobei letztere Eigenschaft auf die Behauptung zugespitzt wird, Putin strebe danach, die Sowjetunion wiederherzustellen. Obwohl er direkt gewählter Präsident ist, ist er in den Medien ein Despot.

Putin unterscheidet sich von seinen - wohlwollend ausgedrückt - völlig überforderten politischen Vorgängern Gorbachev und Yeltsin durch Kompetenz und dementsprechende Erfolge zum Wohle der Bürger. (Diese Kompetenzen stoßen allerdings im Bereich der psychologischen Kriegsführung an sehr enge Grenzen, wie die Ukraine-Invasion gezeigt hat.) Innen- und wirtschaftspolitisch war es ihm jedoch gelungen, die politische Macht der neu entstandenen Schicht der superreichen Wirtschafts-Oligarchen zu begrenzen, was allerdings unmöglich gewesen wäre, ohne einige von ihnen gegen andere auszuspielen. Vorwürfe demokratischer Defizite erscheinen unangebracht und extrem hypokritisch, denkt man an die in den USA ungleich größeren Einflüsse des Großkapitals.

Vom Moment ihrer Unabhängigkeit 1991 an wird der Ukraine sehr viel Aufmerksamkeit und angebliche Besorgnis gewidmet. Dabei bleibt allerdings unbeachtet, dass diese ehemalige Sowjetrepublik historisch nie als konsolidierter selbständiger Staat existiert hatte. Vielmehr war deren heutiges Territorium von 882 bis 1240 Bestandteil der Kiewer Rus, eines Bundes, slawischer Fürstentümer, welcher bis an die Ostsee reichte und den gemeinsamen Ursprung Russlands, der Ukraine und Weißrusslands bildete. Die engen Verflechtungen in der gemeinsamen Geschichte (wechselnd auch mit Polen und Litauen) bestanden unter alleiniger Unterbrechung während der Mongolenherrschaft bis in die Ära der Sowjetunion und sogar darüber hinaus fort (GUS). Als Russland die Ukraine 1991 freiwillig in die Unabhängigkeit entließ, geschah dies in freundschaftlichem Einvernehmen – und nicht im Entferntesten mit der Perspektive, dass sich diese schon eine Generation später anschicken könnte, einem gegen Russland gerichteten Militärbündnis beizutreten. Eine solche abermalige NATO-Erweiterung ist aber gar nicht mehr erforderlich, indem seit 2017 mit PESCO ein EU-Militärbündnis besteht, das von Amerika und von Großbritannien aus betrachtet wesentlich mehr Gestaltungsspielraum bietet, namentlich hinsichtlich der Einbeziehung von Atomwaffen (siehe Schluss Kapitel A 21.). Auch NATO-Partner Türkei wäre im atomaren Eskalationsfall nicht betroffen.

Das aktuell vorgeschobene Argument, dass jedes Land über seine Bündniszugehörigkeit frei entscheiden darf, ist isoliert gesehen selbstverständlich richtig, aber im Ukraine-Kontext höchst unaufrichtig. Denn erstens unterschlägt es den nach der Auflösung der Sowjetunion von Russland klar artikulierten Wunsch nach Einbindung in die europäische Völkerfamilie. Zweitens ignoriert dieses Argument das Gebot der Fairness, indem der Auflösung des Warschauer Paktes (des sowjetischen Militärbündnisses) im Gegenzug die Auflösung der NATO hätte folgen müssen. 

Doch war den Medienkonsumenten bereits im Kontext mit dem  Wiederanschluss der Halbinsel Krim 2014 ein verzerrtes Bild sowohl von Russland als auch von der völkerrechtlichen Lage vermittelt worden. Die Berichterstattung wies alle drei für die Monsterjagd typischen Merkmale auf, und das in besonderer Ausprägung - es wurde in der Sache einseitig berichtet, emotional überhöht kommentiert - und vor allem nicht berichtet – nämlich über wichtige Fakten, die nicht ins gewünschte Klischeebild passen. 

Über 170 Jahre lang hatte die Krim zu Russland gehört, bis sie während der Sowjetherrschaft 1954 aus rein administrativ-organisatorischen Gründen, gegen Unionsrecht und ohne Volksbefragung von der Russischen Föderativen Sozialistischen Sowjetrepublik (RFSSR) an die Ukrainische Sozialistische Sowjetrepublik übertragen wurde. Dieser Vorgang war völkerrechtswidrig, da bei UNO-Gründung 1945 nicht die Sowjetunion, sondern drei ihrer Unionsrepubliken der Weltorganisation beitraten, darunter die Ukraine und die RFSSR, also Russland einschließlich der Krim.  Ukrainer waren und sind auf der Halbinsel eine Minderheit. Als sich die Bewohner 2014 in einer Volksabstimmung mit sehr großer Mehrheit für eine Zurücknahme des Verwaltungsaktes von 1954 und für einen Wiederanschluss an Russland entschieden, war dies eine begründete Korrektur in einem Akt der Selbstbestimmung

Dieser sehr weitgehende Schritt war die Reaktion auf eine die russische Sprache und Kultur in der Ukraine benachteiligende Politik seitens der - unter demokratisch nicht einwandfreien Bedingungen - an die Macht gekommenen extrem-nationalistischen Regierung Yatsenyuk (2014-2016). Die USA und die übrigen NATO-Länder haben der Unabhängigkeitserklärung des Autonomen Krim-Parlaments und dem bestätigenden Referendum der Krim-Bewohner unter formalen Vorwänden die Anerkennung verweigert. Dabei besaß die Krim selbst innerhalb der Ukraine den Status einer autonomen Republik. Auch war die Krim bei UNO-Beitritt 1945 Bestandteil Russlands, so dass nur dieses den völkerrechtlichen Gebietsschutz nach Artikel 2 der UNO-Charta für die Halbinsel reklamieren kann.

Anders als behauptet und im sehr scharfen Kontrast zur gewaltsamen Abtrennung des Kosovo von Serbien durch die USA und einige Partnerländer 1999 erfolgte der Wiederanschluss der Krim an Russland 2014 ohne Blutvergießen. Nach der ukrainischen Unabhängigkeit 1991 war auf einvernehmlicher Basis russisches Militär auf der Krim verblieben, und zwar im Rahmen eines Staatsvertrages zur weiteren Unterhaltung der russischen Schwarzmeerflotte

Mit der Nichtanerkennung des Volksentscheids auf der Krim lassen "westliche" Hardliner einmal mehr die Konsistenz der Wertmaßstäbe vermissen: Das Selbstbestimmungsrecht besetzt im demokratischen Wertekanon einen hervorragenden Platz und ist in Artikel 1 Absatz 2 der UN-Charta von 1945 verbrieft. Ein solches Rechtsgut kann man aufgrund formaler Einwände ggf. an Auflagen knüpfen - z.B. Wahlwiederholung unter internationaler Beobachtung – aber nicht generell verweigern. 

Ebenso wie der Wiederanschluss der Krim an Russland hat auch der aktuelle Ukrainekonflikt seinen Ursprung in der fragwürdigen Machtübernahme durch nationalistische und betont russophobe Kräfte um Yatsenyuk in Kiew im Februar 2014 (nachdem der gewählte Präsident Janukowitsch angesichts der Maidan-Unruhen geflohen war). Während die internationale Presse und Politik bei einem vergleichbaren Machtwechsel in Westeuropa zu Recht das rechtsradikale Profil (einschließlich Schulterschluss mit bekennenden Antisemiten, u. a. aus der Svoboda-Partei) reklamiert hätten, stieß der Wandel bei amerikanischen Politikern auf so begeisterte Zustimmung, dass Außenminister John Kerry bereits während der Maidan-Unruhen nach Kiew flog und „Falke“ Senator John McCain kurz nach dem Machtwechsel. Die Furcht vor Diskriminierung der russischsprachigen Bevölkerungsmehrheit auf der Krim und im Osten der Ukraine wurden durch die neuen Kräfte in Kiew nicht etwa durch versöhnliche Gesten besänftigt, sondern vollends bestätigt, unter anderem durch zwei umfangreiche Gesetze, mit denen der Gebrauch der russischen Sprache weiter eingeschränkt wurde. Nach dem Ausbildungsgesetz von 2017 und dem Sprachgesetz von 2019 ist Ukrainisch nunmehr alleinige Unterrichts- und Behördensprache und die Zulassung des Russischen im öffentlichen Leben unterliegt starken Einschränkungen, beispielsweise bei Filmvorführungen, auf Warenetiketten und Beipackzetteln. Nach internationalen Standards (so auch in Russland und im Südwesten der USA) sind jedoch in vergleichbaren Konstellationen bilinguale Lösungen und Mitentscheidung der Eltern bei der Unterrichtssprache üblich. Verständlicherweise trachteten die mehrheitlich Russisch sprechenden Bewohner der Krim und der ostukrainischen Regionen Lugansk und Donezk 2014 danach, sich dem nationalistischen Regime in Kiew zu entziehen. Dies geschah nach jeweiligem Referendum als Wiederanschluss der Krim an Russland und als Unabhängigkeitserklärung der Gebiete Donezk und Lugansk in der Ostukraine. 

Die am 24. Februar 2022 begonnene militärische Invasion Russlands verstieß formal gegen  das Völkerrecht, auch wenn verschiedene ernsthafte Begründungen vorgebracht wurden, vor allem das Anliegen, für die Gebiete Lugansk und Donezk normale Lebensumstände auf der Grundlage des Minsker Abkommens einzurichten. Bevor man sich allerdings denjenigen anschließt, die in Waffenlieferungen und immer direkteren militärischen Hilfestellungen die richtige Antwort zu erkennen meinen, sollte man erst einmal nach historischen Präzedenzfällen Ausschau halten. Unter diesen stößt man auf die türkische Invasion in Zypern im Jahr 1974. Den äusseren Anlass hatte ein Putsch durch das Inselmilitär gegen den Präsidenten Makarios geboten sowie die Ankündigung der neuen Machthaber, Zypern an Griechenland anschließen zu wollen (so wie jetzt die Ukraine an die NATO und die PESCO). Das Resultat des 5 Tage später folgenden (also langfristig vorbereiteten) gewaltsamen türkischen Eingreifens bestand aus mindestens 5.000 Todesopfern und 170.000 aus dem Nordteil der Insel vertriebenen Menschen - nach anderen Quellen rund 200.000. Dort wurde später die Türkische Republik Nordzypern auf etwa 36 % des Territoriums für die 18 % ausmachende türkische Bevölkerungsgruppe proklamiert. / Vgl. Philip Chrysopoulos,  The Haunting Tragedy of the Turkish Invasion of Cyprus, in The Greek Reporter, July 20, 2021, Referenz https://greekreporter.com/2021/07/20/cyprus-unforgettable-tragedy-of-july-20-1974-video/

Für die Türkei und den türkischen Staat im Norden der Insel ist die militärische Invasion ohne bedeutende negative Konsequenzen geblieben, indem die internationale Nichtanerkennung ignoriert und der gewaltsam erreichte Zustand ansonsten durch Aussitzen zementiert wird. - Allerdings war eine ganz andere Macht letztlich ursächlich für das tiefe Zerwürfnis zwischen den beiden Bevölkerungsgruppen, nämlich die ehemalige Kolonialmacht Großbritannien. Ihre Wirksamkeit bestand in Polarisierung - zufällig oder nicht - ganz ähnlich wie auch in Palästina (siehe Kapitel B 10.). Die Griechen sind historisch bereits im Krimkrieg (1853 – 1856), im Türkisch-Griechischen Krieg um Kreta 1897 und im Griechisch-Türkischen Krieg (1919 – 1922) von Großbritannien im Stich gelassen worden. Diese Schutzlosigkeit war einer der Umstände, unter welchen auch das antigriechische Pogrom von 1955 in Istanbul möglich war. Ebenso verhielt es sich 1974, als das in zwei Militärbasen auf Zypern (bis heute) stationierte britische Militär nichts zum Schutz der Bevölkerung vor den türkischen Invasionstruppen unternahm. – Im Kontrast dazu gehörte dasselbe Großbritannien zu den ersten Staaten, welche bereits die russischen Militärübungen in der Nähe zur ukrainischen Grenze Anfang Februar 2022 zum Anlass genommen haben, der Ukraine Kriegsgerät zu liefern. 

Schon länger arbeiten Militaristen darauf hin, nach den drei baltischen Staaten auch die Ukraine als vierte ehemalige Sowjetrepublik (und Georgien später als fünfte) in die NATO aufzunehmen, was Russland als sicherheitspolitische Bedrängung auffassen muss. Diese Ostexpansion offenbart zugleich eine grobe Verantwortungslosigkeit gegenüber den eigenen, "westlichen"  Bürgern. Denn als beistandpflichtige Alliierte einer im Umgang mit ihrer eigenen russischen Minderheit und mit Russland als Nachbarn kooperationsunwilligen ukrainischen Regierung ständen sie fortwährend am Rande eines Weltkrieges.

Der grosse russlandfeindliche Medienrummel um die Ukrainekrise sollte Bürgern und Politikern auch ein großes und grundsätzliches Problem bewusst machen – ihr schlechtes Gedächtnis für zeitgeschichtliche Ereignisse, konkret auch für die NATO-Russland-Grundakte von 1997 (s. o.). Ohne diese Vergesslichkeit wäre heute allen bewusst, dass es der „Westen“ war, der schon ab 1999 mit der NATO-Osterweiterung gegen den partnerschaftlichen Geist dieses Abkommens verstoßen hat.  

25 Jahre später hatte die nationalistische Regierung der Ukraine nicht Waffen benötigt, die namentlich Großbritannien sofort eifrig geliefert hat,  sondern Impulse für einen partnerschaftlichen Umgang mit Russland und mit ihrer eigenen russischen Bevölkerungsgruppe. Denn ebenso, wie die NATO-Russland-Grundakte in Vergessenheit geraten ist, hat man auch die faire und großzügige Autonomie vergessen, welche die Ukraine und die ukrainische Sprachgruppe im Staatsverband der Sowjetunion in Anspruch nehmen konnten. Billigerweise konnte die Russisch sprechende Bevölkerungsmehrheit in den Krisenregionen Lugansk und Donezk auch dieselbe Fairness von der Ukraine erwarten. 

Indem die beteiligten Regierungen, die in Kiew und auch die in Moskau, nicht die erforderliche gutnachbarschaftliche Mindest-Kooperations- und -Friedensfähigkeit in einer historisch gewachsenen Völker Konstellation aufgebracht haben, darf jede Seite die Schuld unter Meidung von Hypokrisie auch bei sich selbst suchen, denn zu einem so massiven Disput gehören immer zwei (und eventuell dritte im Hintergrund). Den übrigen europäischen Ländern kommt keine Funktion als Waffenlieferanten zu, sondern eine Vermittlerrolle, um sofortigen Waffenstillstand herzustellen.