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Tribalismus oder Freiheit     

Der Mensch ist in jeder Hinsicht ein Gruppenwesen, welches allein auf sich gestellt nur sehr eingeschränkt überlebensfähig ist. Bereits ein aus seiner Horde verstoßener Frühmensch konnte ohne die Kooperation in der Jagdgemeinschaft kaum ausreichend Nahrung zusammenbringen. In der Zivilisation ist die gegenseitige Abhängigkeit der Individuen keineswegs geringer. Würde man jemanden daran hindern, mit anderen Menschen sowie deren Produkten und Abfällen in Verbindung zu treten, müsste er im Regelfall verhungern.

Die Abhängigkeit beruht auf Gegenseitigkeit: Das Individuum braucht die Gruppe, die ihm Schutz und verbesserte Chancen auf Nahrungserwerb liefert und die Gruppe braucht umgekehrt die Kooperationsbereitschaft des Individuums. Eine territoriale Gruppe - egal ob ein Stamm steinzeitlicher Jäger und Sammler oder eine moderne Nation – welche sich größtenteils aus solidarischen Egoisten Zusammensetzt, tut sich mit der Verteidigung nach außen wie auch mit einem kooperativen Miteinander im Innern deutlich schwerer als andere. Im Kommen und Gehen der Völker im Laufe der Geschichte ist sie damit unter den vordersten Kandidaten fürs Gehen.

Das historische Wechselspiel läuft somit unausweichlich darauf hinaus, dass Staaten, Völker, Stämme oder Nationen nur dann eine Chance auf langfristigen Bestand haben, wenn die Menschen einen gewissen Zusammenhalt entwickeln, eine Solidarität. - Prinzipiell gibt es drei Typen der Gruppenbildung. Die eine ist unausweichlich, indem man in eine Gruppe hineingeboren wird. Die beiden anderen beruhen auf eigener Initiative und freier Auswahl, jedoch in zwei grundverschiedenen Ansätzen, indem die Auswahl  entweder emotional gesteuert und personenorientiert stattfindet - oder aber Verstandsgesteuert und nach sachlich-rationalen Kriterien.

Nur die Letztgenannte entspricht einer Auswahl im „Autonomous State“, also als selbstverantwortlich denkendes Wesen, als freier Mensch. „All proper associations are formed or joined by individual choice and on conscious, intellectual grounds (philosophical, political ... etc.)... When men are united by ideas i.e., by explicit principles, there is no room for favours, whims, or arbitrary power: the principles serve as an objective criterion for determining actions and for judging men.“ – Alle korrekten Assoziationen/ Vereinigungen werden durch individuelle Auswahl und auf bewusster intellektueller Basis (philosophisch, politisch ... usw.) geformt oder gebildet... Wenn Menschen durch Ideen vereinigt sind, d. h. durch klare Prinzipien, gibt es keinen Spielraum für Bevorzugungen, Launen und willkürliche Macht: Die Prinzipien dienen als ein objektives Kriterium, um Handlungen festzulegen und um Personen zu beurteilen.(Hervorhebungen nachträglich) / Ayn Rand, Philosophy: Who Needs It, a.a.o., S. 60 f

Ayn Rand gebraucht für diese höchste Form menschlicher Zusammenschlüsse den Ausdruck Assoziation - und damit exakt denselben wie auch Karl Marx für seine gesellschaftliche Zukunftsvision. Bei beiden geht es im Kontext um eine ideale Form des Zusammenlebens von Menschen, die sich rational und in freier Entscheidung –also im „Autonomous State“zu einer Assoziation zusammenschließen. Für Ayn Rand war eine solche ideale Gesellschaft in den USA der Gründerjahre mit ihrer freien Marktwirtschaft und demokratischen Verfassung bereits annähernd verwirklicht. Karl Marx nannte seine Vision „klassenlose Gesellschaft“. Anders als nach den leeren Versprechungen der Leninisten geht es dabei  nicht um eine Gesellschaft der Gleichschaltung, sondern um eine der freiheitlichen und freundschaftlichen Emanzipation (siehe Kapitel A 34. „Klassenlose Gesellschaft?“).

Die Ansichten von Rand und Marx stimmen auch darin überein, dass die ideale Gesellschaft sich nur verwirklichen lässt, indem die Macht des Staates so weit wie möglich begrenzt und ansonsten demokratisch kontrolliert wird. Bereits Thomas Jefferson hatte die Gefahr ausufernder Staatsmacht erkannt; dementsprechend repräsentiert die von ihm und den anderen Gründungsvätern geschaffene Verfassung der USA ein Bollwerk zum Schutz der Bürger und ihrer Freiheiten – auch und gerade gegen staatliche Machtansprüche (Kapitel A 34.). 

Aus dieser Perspektive enttarnt sich der Kapitalismus: Gegen die freiheitlichen Fundamente der USA und gegen tatsächliche Bürgerinteressen dirigiert er so viel Macht in der Hand des Staates wie möglich - um diese seinerseits inoffiziell zu kontrollieren. Ein solcher Staat – wie in der aktuellen „Mixed Economy“ – beschneidet zunehmend die Freiheiten der Bürger, während er gleichzeitig die Maximierung der Großvermögen fördert – in jeder Krise wie der Coronavirus-Pandemie 2020/21 nochmals beschleunigt. – So waren die vielen von der FED aus diesem Anlass  zusätzlich gedruckten Dollar wenig geeignet, die Produktion in den Betrieben anzukurbeln. Sehr wohl war das zusätzliche Geld geeignet, über die Hände von Kapitalisten und Spekulanten einmal mehr riesige Vermögen Umverteilungen zu beflügeln, und zwar wie gewohnt, um Reiche und Superreiche noch reicher zu machen.

Parallel zum Machtzuwachs des Staates findet folglich ein noch größerer Machtzuwachs des Großkapitals - bei gleichzeitig fortschreitender Beschneidung bürgerlicher Freiheiten statt. Diese die freiheitlich-demokratische Ordnung untergraben Machtverschiebung darf allerdings nicht zu sehr auffallen, um keinen Widerstand zu provozieren. – Dazu haben sich auf Seiten der Kapitalisten zwei Strategien bewährt, einmal die inhaltliche Steuerung der Bürgermeinung durch Medienpropaganda und zweitens die Paralysierung des kritischen Verstandes durch Psycho Effekte. 

Diese Psychoeffekte setzen mit der Präzision von Feinwerkzeugen bei dem entscheidenden Umschaltmechanismus an, nämlich dem zwischen „Agentic State“ und „Autonomous State“. Es wird daher alles unternommen, um die Bürger in einem tribalistischen Wahrnehmungs- und Verhaltensmodus zu halten. Dazu gehören namentlich das Schüren von Angst, das Suggerieren von Schuld, das Brechen von Stolz und das Einschränken der Bewegungsfreiheit (z. B. durch Zusammenpferchen auf engem Raum oder durch Ausgehverbote).

Wie anhand der Punkte 8.1 bis 8.11 und 9.1 bis 9.8 im Kapitel A 18.Anonymität, Macht und ihre destruktiven Folgen“ erkennbar wurde, verlangt das System tribalistischer Interaktionen vom Individuum ein hohes Mass an Anpassungwas meistens gleichbedeutend mit Unterordnung ist. Selbst die politischen und gesellschaftlichen Akteure des Establishments befinden sich dabei absolut ausnahmslos in Positionen, von denen aus sie sich entsprechend Punkt 9.4 im genannten Kapitel der herrschenden Moral/ Philosophie zu unterwerfen haben. Kein noch so hoher Angehöriger des Establishments, auch nicht der Präsident der Vereinigten Staaten, kann sich diesem tribalistischen Regelwerk entziehen – bis sich die Gesellschaft mental befreit.

Selbstbefreiung aber bedeutet, aus dem Tribalistischen in den  selbstverantwortlichen „Autonomous State“ zu schalten. Erst in diesem tatsächlich freien Modus gelingt - dann allerdings zügig - eine rationale Hinterfragung der besagten, im Über-Ich einprogrammierten, herrschenden Pseudomoral. Die freiheitliche Gesinnung, wie sie zu Zeiten der Gründungsväter das Fundament der amerikanischen Gesellschaft bildete, wird dann zum festen Bestandteil des Persönlichkeitsprofils – so wie es Noam Chomsky für sich beschreibt: ”Ich war mir nie einer anderen Möglichkeit bewusst, als der, alles in Frage zu stellen.“ /  Noam Chomsky Referenz: https://beruhmte-zitate.de/autoren/noam-chomsky/?page=2

Es ist namentlich das durch falsche Dogmen manipulierte Bewusstseins der Menschen, welche als Massenerscheinung kausal zu hinterfragen ist - was schon Karl Marx erkannt hatte: "Unser Wahlspruch muss also sein: Reform des Bewußtseins nicht durch Dogmen, sondern durch Analysierung des mystischen sich selbst unklaren Bewusstseins, .... / Karl Marx, Brief an Arnold Ruge, Kreuznach, im September 1843. MEW 1, S. 346

Außer Marx und Chomsky stimmten bzw. stimmen auch  Thomas Jefferson, Sigmund Freud, Ayn Rand, Johan Galtung, Julian Assange und andere unabhängige Menschen in dieser freiheitlichen Gesinnung überein. Kennzeichnend ist außer einer gesunden Skepsis auch die Bereitschaft, couragiert gegen die Unterdrückung der Freiheit zu protestieren, und diese nicht so lange unterwürfig zu erdulden, bis es für friedliche Lösungen zu spät ist. 

Dagegen sorgt das kapitalistisch kontrollierte System dafür, dass freiheitliche Wachsamkeit als “extremistisch” gebrandmarkt und den Medienkonsumenten vorurteils befrachtet präsentiert wird: Die betreffenden Personen, die im Regelfall lediglich mit vollem Recht für Freiheiten sowie gegen unangemessene Aktionen des Staates eintreten, werden mit Totschlagwörtern wie “Radicals”, “Radical Democratic" oder "Radicalized" mit Gewaltbereitschaft und unterstellten Hassgefühlen in Verbindung gebracht. Die ständige Wiederholung solcher diffamierender Verknüpfungen in den Medien bedient primitives Assoziationslernen(Konditionierung), läuft also auf eine Dressur der gutgläubigen Bürger hinaus.

Mit etwas geübten Blick stößt man in den Mainstream-Medien auf reichlich offene und versteckte emotionale Appelle sowie auf manipulativen Umgang mit Fakten. Häufig ist es ein Gemisch aus dem 1. selektiven Vorenthalten von Information und zutreffender Information - die aber 2. aus ihrem korrekten Kontext gelöst wird (z. B. die Flucht Julian Assanges nach Grossbritannien – jedoch nicht, um sich den falschen Anschuldigungen der schwedischen Justiz zu entziehen, sondern weil ihn die Anklagebehörden in den USA mit der Todesstrafe bedrohten und heute immer noch mit lebenslänglicher Haft - sowie 3. ungeprüfterWeitergabe von Unwahrheiten (z.B. die Massenvernichtungswaffen von Saddam Hussein). 

Personen, die es wagen, sich außerhalb der mit den Jahren immer enger und immer surrealer gefassten “Political Correctness” des Mainstream zu positionieren, werden als “Extremists”, “Radicals” einem systematischen Mobbing ausgesetzt. Eine Stufe schärfer ist die Gangart gegenüber "Radicalized", also Personen, welche andere Menschen aus ihrem staatsbürgerlichen Tiefschlaf aufwecken und ihnen Wege aus der untertänigen politischen Passivität aufzeigen. Die gewaltfreie Courage dieser Freidenker, mit welcher sie Missstände aufdecken, wird in unfairer Weise mit der tatsächlichen Gewaltbereitschaft am linken und rechten Rand des politischen Spektrums propagandistisch vermengt.

Eine tatsächliche Einheit bilden dagegen die Befreiung des Denkens einerseits und die Courage, das Gedachte zu vertreten andererseits - wie es Ayn Rand auf den Punkt brachte: Courage comes from the ability to say “No” to the wrong choices made by others”. – Courage kommt von der Fähigkeit, “Nein” zu den falschen Entscheidungen anderer zu sagen. / Ayn Rand, Philosophy: Who needs it, a.a.o. S. 37. Freidenker lassen sich nicht von ideologischen Scheuklappen irritieren und überprüfen unvoreingenommen und hypokrisie frei ausdrücklich auch weltanschauliche Gedanken abseits der verordneten “Political Correctness”. Damit brechen sie ein Tabu. - welches zu keinem anderen Zweck  gesetzt worden ist als zur Herrschaftssicherung der inoffiziell Mächtigen.

Getreu der destruktiven Strategie, Rechtsprinzipien an ihrer schwächsten Stelle anzugreifen, wird das Recht auf freies Denken zuerst in den extremsten Positionen auf der rechten wie auf der linken Seite des politischen Spektrums ins Visier genommen. Dort finden sich allerdings überhaupt keine tatsächlichen Frei-Denker, sondern Tribalisten, die nur eine perzeptuelle Vorstellung von Freiheit haben und bei denen das Denken gegenüber der Emotion keine bedeutende Rolle spielt. Doch gerade diesen beiden Extremisten Ecken werden die Freidenker unfairer Weise zugeordnet. In beiden Fällen ist eine Unterscheidung von den dort tatsächlich angesiedelten rückständigen Tribalistas allerdings sehr leicht möglich, u.a. nach dem Kriterium der Gewaltbereitschaft – wobei Gewalt auf der extremen linken, also leninistischen Seite auch materielle Enteignung als eine Form struktureller Gewalt einschließt. Zudem unterscheiden sich Freidenker durch ausgeprägtes Verantwortungsbewusstsein, durch Gerechtigkeitssinn und durch Offenheit für die Gedanken anderer. – Denn ihre Motivation zielt nicht auf die Erlangung von Vorteilen, welche die tribalistische Gruppe “organisiert”, sondern auf objektive Erkenntnisse und fairen Ausgleich. Je weiter sie in diesem rationalen Bemühen fortgeschritten sind, umso weniger kann ihre politische Position als rechts, links oder Mitte definiert werden und umso mehr als frei und unabhängig von jeglichem Tribalismus, in welchem die aktuellen politischen Gruppierungen noch grossenteils gefangen sind. 

Etablierte Personen, die bisher am kapitalisten hörigen Meinung Mobbing mitgewirkt haben, sind sich kaum bewusst, welche psychosozialen Abgrenzungen nach freiheitlich-demokratischen Maßstäben tatsächlich relevant sind – und dass sie selbst sehr aufpassen müssen, sich nicht exakt auf der falschen Seite zu positionieren. Zweifellos zeichnen sich speziell die Gewaltbereiten unter den Nationalisten und unter den Leninisten durch ein deutliches tribalistisches Profil aus – ohne nennenswerte Ansätze zu einem “Autonomous State” und mit folglich auffallend unterentwickelten Bezug zu den Prinzipien Freiheit, Bürgerrechte, Fairness und Demokratie. Somit haben diese Vertreter politischer Randgruppen ganz besonderen Anlass, sich um eine Befreiung aus ihrer geistig und emotional unselbständigen Position im “Agentic State” zu bemühen und eine angemessene Haltung gegenüber Andersdenkenden zu finden. – Eben dieselbe Feststellung gilt allerdings auch für Angehörige des Establishments, die sich jahrzehntelang unkritisch der als “Political Correctness” getarnten Ideologie des Großkapitals unterworfen haben. 

Demgegenüber haben sich besagte Freidenker, also autonom denkende Menschen wie Noam Chomsky oder Julian Assange, schon längst aus dem “Agentic State“ befreit. Sie bewegen sich damit ausserhalb des politischen Rasters aus “links”, “rechts” und “Mitte”. Ihr unabhängiges Urteil lässt sie nicht pauschal irgend einer - letztlich stets mehr oder weniger tribalistischen - Gruppe zustimmen, sondern allein sachlich korrekten Überlegungen und Handlungen. Ihre eventuelle Suche nach Gruppenanschluss fußt nicht auf persönlichen Präferenzen, sondern auf rational ermittelten gemeinsamen Wertmaßstäben und Prinzipien. Die rein sachlichen Beurteilungsmaßstäbe blockieren keinen emotionalen Raum und erlauben Fairness, welche die Meinung von Andersdenkenden – ausdrücklich auch die von vermeintlichen Feinden - respektiert (siehe Martin Luther-King gegen Schluss des Kapitels “Parteien”.) Kennzeichnend für diese unabhängig denkenden Individuen ist der Gebrauch des logischen Arguments als des einzigen dem Menschen als Verstandeswesen adäquaten – und bei Lichte besehen des einzig nachhaltigen - Mittels der Auseinandersetzung – und damit die Absage an Gewaltanwendung abseits der Verteidigung. Die politische Positionierung der Freidenker hat definitiv zwischen den bestehenden, noch stark tribalistisch geprägten politischen Gruppierungen keinen Platz - nur darüber (keineswegs zu verwechseln mit abgehoben). Auf solche tatsächlich freien Personen verfügt der Mainstream-Journalismus allerdings über eine uneingeschränkte Jagdlizenz, sobald diese es wagen, sich außerhalb des Geheges der "Political Correctness” zu bewegen. Die einzelnen Jagdbeteiligten tragen in der eigenen tribalistischen Wahrnehmung keine Verantwortung an dem Spiel, denn diese wurde psychologisch schon lange an die Gesamtgruppe des Establishments allgemein und an ranghöhere Personen im Besonderen abgegeben.

Für Menschen mit kritischem Urteilsvermögen wird die in diesen Jagdspielen sich manifestierende zutiefst undemokratische und freiheit widrige Grundhaltung zunehmend als solche erkennbar, namentlich, indem klar wird, dass die Jagd auch speziell Personen zur Zielscheibe hat, die über reale Gefahren für die Freiheit aufklären. Denn Freiheit lässt sich zwar leicht mit moralischer Berechtigung einfordern, stellt sich aber nicht von selbst ein. Vielmehr treten regelmäßig offene und verdeckte Machtansprüche einzelner Personen oder Gruppen in den Weg der Bürger, Machtansprüche, die mit ihrem demokratischen Anspruch auf Freiheit nicht kompatibel sind. 

Da das Individuum allein wehrlos ist, liegt die einzige Chance für die Durchsetzung der Freiheit im solidarischen Schulterschluss. Mit der Fähigkeit zur Solidarität stehen und fielen daher Freiheit und Demokratie. Da solidarisches Verhalten unbedingt auch entschlossenes Eintreten füreinander einschließt, kann diese Art von Zusammenschluss nicht ohne einen affektiven, also emotionalen, Mechanismus  funktionieren. Die erforderlichen Gefühle solidarischer Verbundenheit sind zwar weitaus schwächer als die unter dem Namen Liebe bekannten innerhalb der Familie, haben aber eine ähnliche positive Färbung. Sie erlauben es auch, in der alltäglichen Kooperation immer wieder Vertrauensvorsprung zu geben und Fairness zu praktizieren. 

Die bisherige Geschichte hat nur eine einzige Form von Solidargemeinschaft hervorgebracht, die genügend politisches Gewicht hat, ihre Freiheit souverän einzufordern, nämlich die Nation (genauer begründet in Kapitel A 33).

Dieser historisch-soziologischen Vorgabe entsprechend gilt es, zu einem rationalen Umgang mit besagten Solidaritätsgefühlen zu gelangen. (Eine solche Forderung kann man auch in dem weiter oben wiedergegebenen Statement von Marx zur Reform des Bewusstseins inkludiert sehen.) - Ohne emotionales Engagement lässt sich die Freiheit nicht behaupten, doch mit übersteigerten Bindungsgefühlen fällt man leicht in den Bereich des tribalistischen Nationalismus zurück, der erstens die Neigung zur Konflikteskalation in sich birgt, zweitens eine Integration mehrerer Nationen zu einer Gemeinschaft oder einem Bund blockiert und damit drittens auch den Weg zur höheren Gesellschaftsform der Freien Assoziation (siehe nächstes Kapitel). Zur Gewährleistung einer Zukunft in demokratischer Freiheit bedarf es daher alternativlos eines moderaten  Patriotismus, einhergehend mit rationalen Prinzipien. Eines dieser Prinzipien besteht darin, konsequent aus der Geschichte zu lernen, ein weiteres in konsistenter außenpolitischer Zuverlässigkeit und Berechenbarkeit.

Patriotismus hat sprachlich gemeinsame Wurzeln mit dem lateinischen Wort „patria“ = Heimat(land)  und bedeutet dementsprechend Heimatverbundenheit sowie Verbundenheit mit der Gesellschaft oder Nation, welche in diesem geographischen Raum ansässig ist. 

Der von tribe = Stamm / Volksstamm abgeleitete Begriff tribalism steht zwar gleichfalls für Gruppenbindung, doch umfasst die betreffende Gruppe nie die gesamte Nation. Tribalismus ist nicht nur nicht deckungsgleich mit Patriotismus, sondern weithin sein Gegenteil. Heutige Tribalisten, von denen die Politik und allgemein das Establishment geradezu überquillt, geben sich typischer Weise betont antipatriotisch – was sie für unbedingt fortschrittlich halten; Das menschliche Urbedürfnis, sich einer Gruppe anzuschließen, findet bei ihnen nicht in der gesellschaftlichen Gesamtheit der Nation, sondern  stets in einer Teilgruppe der Gesellschaft sein Zielobjekt, beispielsweise in einem Verein, einer Organisation, einem Verband, einer Gewerkschaft oder - insbesondere - einer politischen Partei. Mit etwas Übung lässt sich leicht erkennen, dass die emotionale Verbundenheit im Rahmen des Tribalismus von gänzlich anderer Natur ist als die dem Patriotismus zu Grunde liegende. 

Die Herrschaft des Großkapitals bedient sich mit wachsender Effektivität einer gezielten Programmierung der Menschen aus patriotischer Solidarität  und hinein in einen tribalistischen, unselbständigen „Agentic State“. Für Personen, welche ins politische Establishment aufgenommen werden möchten, ist den Erkenntnissen Noam Chomskys zufolge noch eine weitere Programmierung Zutritts Voraussetzung, nämlich die zu einer ideologisch „korrekten“ politischen Positionierung. Indem sich diese „Specialized Class“ in einem unablässigen „Säuberungsprozess aller autonom und selbstverantwortlich denkender Personen entledigt, lässt sich die Verinnerlichung der gültigen Philosophie der eigentlichen (aber unsichtbaren) Machthaber dort besonders gut beobachten. 

Um die seit der Überwindung der Adelsherrschaft in der Französischen Revolution errichtete Demokratie authentisch repräsentieren zu können, müsste das Establishment auch die drei Motti der Französischen Revolution Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit sowie alle daraus abgeleiteten Grundrechte und Prinzipien Konsistent verkörpern. Doch steht der willkürliche, “pragmatische” Wechsel der Maßstäbe dazu im Widerspruch. Wurden beispielsweise "Verfolgung Schutz von Volksgruppen” und “Selbstbestimmungsrecht” im Falle des Kosovo und des Südsudan für vorrangig erachtet und zum Anlass für die jeweilige Unabhängigkeit (im Falle des Kosovo auch für deren sehr harte militärische Durchsetzung gegen Serbien) genommen, haben die auf dieselben Prinzipien verweisenden Kurden das Pech, den geostrategischen und bündnis politischen Prioritäten der USA, richtiger der faktischen Machthaber mit viel Geld, im Wege zu stehen.

Diese inkonsistente politische Praxis offenbart einen sachlogischen Widerspruch: Das im Schlagwort “Political Correctness” zum Ausdruck gebrachte Wahrheitsmonopol passt nicht zu dem unübersehbaren Wechsel und Wandel dieser angeblichen Wahrheit und deren “pragmatischer” Applikation. Um nicht aus der politischen Arena verstossen zu werden, müssen Vertreter der “Political Correctness” mit diesen objektiven Widersprüchen des kapitalistischen Systems auf der Ebene ihrer Psyche fertig werden. Dazu greifen psychologische Abwehrmechanismen ein und „schützen“ vor dem Bewusstwerden der unangenehmen Wahrheit (siehe auch Kapitel A 16.  "Anti Philosophen und Philosophien”, letztes Drittel). Besondere praktische Bedeutung kommt der Verdrängung, der Rationalisierung und der Abwertung zu. - Letztere ist sehr simpel geschaltet. Der Tribalist „schützt“ sein Großhirn vor inhaltlich unangenehmen Äußerungen eines Andersdenkenden, indem er diesen als Person abwertet. Dazu kann er ihn beispielsweise für geistig unterbelichtet erklären oder mit einem der Totschlagwörter der PC wie „extremistisch” abstempeln. Damit konstruiert er einen Vorwand, um sich mit dessen Gedanken gar nicht auseinandersetzen zu müssen. Beispielsweise hat es Fälle gegeben, in denen sich Politikerinnen und Politiker vor laufender Kamera abfällig über Bücher von außerhalb der PC  positionierten Autoren ausgelassen haben - während sie erklärten, das betreffende Buch gar nicht gelesen zu haben. 

Was aber kann die Wahrheit dermaßen unangenehm machen, dass das Großhirn vor ihr so massiv geschützt werden muss?  - Ursächlich steckt die Anpassung des Menschen an das seit Jahrtausenden fast ununterbrochen bestehende Milieu autoritärer Machtstrukturen dahinter – sie hat den Mut zur (unbequemen) Wahrheit schwer dezimiert. Umgekehrt erfreute sich blinde Folgsamkeit (nichts hören, nichts sehen, nichts sagen) einer  Dauer-Hochkonjunktur. Wer auf diese Weise emotional angepasst ist, wünscht sich vor allem Konformität. Da echte Solidarität zwischen den Bürgern von den Herrschenden stets beargwöhnt und bekämpft wurde, beinhaltet diese traurige Anpassung als gefügiger Untertan leider auch eine unterentwickelte Neigung zum solidarischen Zusammenhalt gegen Unterdrückung. 

Doch trotz weithin defizitärer Brüderlichkeit benötigen Menschen die Kooperation mit anderen unter fast allen Umständen, denn alleine ist das Individuum schutzlos und kaum überlebensfähig. Es ist daher vor allem eine instinktive Angst vor dem Ausgestoßen werden, die die Menschen zusammenhält.  Bei dieser weltweit verbreiteten Urangst handelt es sich – wie bei seinem Gegenteil, dem Urvertrauen des Babys – um eine emotionale Regung, die „sehr tief sitzt“. Diese Befunde sprechen für eine evolutionär außerordentlich alte Programmierung, eine, die bereits bei unseren Jäger- und Sammler Vorfahren in den afrikanischen Savannen angelegt war. - In den nomadisierenden kleinen Horden waren sie zwischen gefährlichen Raubtieren bedingungslos aufeinander angewiesen. Der nur mäßig hohe Preis für die dauerhafte Stabilität dieses sozialen Gefüges war die soziale Kontrolle, wie sie uns noch heute in Gestalt der neugierigen Nachbarn begegnet. Wer in diesem System als Betrüger oder gar gefährlicher Gewalttäter überführt wurde, konnte damit rechnen, aus der Gemeinschaft verstoßen zu werden. Ausgestoßen und allein in der Savanne hat ein Mensch jedoch sehr geringe Überlebenschancen. – Das sind die Wurzeln der Urangst vor dem Gemobbt werden, vor dem Ausgestossen werden.

Profil des Tribalismus: 

  1. Im Falle von Leninisten Verkündigung von Gleichheit und Kollektivismus, im Falle von Nationalisten und religiösen Fanatikern Überlegenheit Parolen.
  2. In beiden Fällen defizitäre Integrations- und Verständigung Bereitschaft gegenüber anderen Gruppen.  
  3. Großes Delta zwischen dem theoretischen Anspruch und der Realität - eine Folge unzureichend rationaler und überhöhter emotionaler Orientierung (Dogmatismus).
  4. Rangordnung Streben und Fixierung auf Führungspersönlichkeiten (kaum auf Prinzipien oder konsistente Ideen), dementsprechend kritiklose Hierarchie Unterwerfung und Meinungs Konformität
  5. Trotz kumpelhafter Fassade, wenig Solidarität und herzlicher Verbundenheit, Teilhabe an Vorteilen als bindendes Element (Opportunismus). 
  6. In guten Zeiten ausreichende Bindungskräfte um die Quellen materieller Vorteile, in Phasen schwindender Vorteil Quellen jedoch Auflösungstendenzen. (Die Erscheinung entspricht dem in der Natur weit verbreiteten Kommensalentum. Beispielsweise versammeln sich Löwen und Hyänen mitunter verträglich an einer umfangreichen Beute, solange alle reichlich zu fressen haben).
  7. Desintegrierende psychologische Einflüsse wie Neid und verschiedene andere narzisstische Charaktereigenschaften, namentlich die Unfähigkeit, Leistungen anderer aufrichtig anzuerkennen; durch diesen Narzissmus weitere Schwächung des ohnehin nur oberflächlichen Zusammenhalts, dementsprechend keinerlei Resistenz der Gruppe gegen „Säuberungsaktionen“ von oben
  8. Trotz der schwachen Bindungskräfte eindeutige Vorrangigkeit der Bindung an die Teilgruppe (Partei, Religionsgemeinschaft, Organisation) vor derjenigen an die Nation, oft demonstrativer Antipatriotismusund Fehleinschätzung desselben als „weltoffen“ und „fortschrittlich“

 

Die Betrachtungen veranschaulichen, dass der Tribalismus eine psychosoziale Disposition darstellt, die einer modernen Gesellschaft keinen zuverlässigen Halt zu bieten vermag. Die zivilisationsbedingt rasch wachsende Informationsflut steht in zunehmendem Widerspruch zur Abnahme der rationalen Verarbeitungsmöglichkeit der Daten durch die Bürger. Dafür ursächlich sind jedoch weniger Defizite der Intelligenz, sondern deren Blockade durch irrationale Ideologien – und durch die tribalistische Angst, den Verstand jenseits der gesetzten Tabu Schranken zu gebrauchen. Der Schlüssel zu deren Überwindung heißt Freiheit - denn nach Befreiung von der Blockade sind die rationalen, aber bis dahin außerhalb der Wahrnehmung gelegenen Lösungen und Wege plötzlich zum Greifen nahe. – Karl Marx, dessen konstruktive Gedanken bis heute ebenfalls  außerhalb der Wahrnehmung bürgerlich-konservativer Menschen liegen, hatte sehr  treffend festgestellt: „Es wird sich zeigen, dass die Menschheit längst den Traum von einer Sache besitzt, von der sie nur das Bewusstsein haben muss, um sie wirklich zu besitzen“ / Refernz z.B. https://www.zeit.de/1981/24/