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Rätsel Nordkorea

Die Dimensionen der im Kapitalismus verborgen gehaltenen Wahrheit werden in der Öffentlichkeit weit unterschätzt. Im Schlusskapitel B 9. hiess es dazu: „So entsteht der Eindruck einer ins Surreale tendierenden Kulissenwelt, ... So mancher der vermeintlich dem Gemeinwohl dienenden US-Präsidenten und andere politische Grössen erweisen sich bei genauerem Hinsehen als Agenten eines desintegrierenden Systems, dessen Kurs sie nur begrenzt bestimmen können“. Umgekehrt sind auch die offiziellen Feinde der „westlichen“ Länder oft nicht die Monster, als die sie präsentiert werden. Im Regelfall handelt es sich dabei in Wahrheit nur um Widersacher der Hochfinanz, keineswegs aber um Feinde der amerikanischen Nation. Das gilt beispielsweise für Iran, Russland und speziell für Putin.

Dieses plumpe Monster-Schema gilt aber offensichtlich nicht für die leninistischen Länder Kuba, Vietnam und Nordkorea, denn nach diesem müssten auch sie in Wahrheit nur Gegner der Hochfinanz sein. – Zwar werden die dortigen Regime tatsächlich nicht müde, mit markigen Sprüchen gegen „den Kapitalismus“ zu wettern, doch von den gigantischen Möglichkeiten, die versteckte Machtentfaltung der eigentlichenKapitalisten zu enttarnen, wird nicht ansatzweise Gebrauch gemacht. In dieses Bild passt stimmig, dass auch umgekehrt kapitalistische Politik kaum jemals eine zielführende Massnahme ergriffen hat, um den genannten leninistischen Regimes ein Ende zu bereiten.

Auf Kuba hatte das bereits die (Farce von einer) Invasion in der Schweinebucht (siehe Kapitel A 20.) gezeigt, wobei auch von den strategischen Möglichkeiten des US-Militätstützpunkts Guantanamo kein entsprechender Gebrauch gemacht wurde. Bis heute werden Terrorverdächtige (ohne Gerichtsverfahren) im dortigen Lager festgehalten, obwohl sie viel passender in eine der vielen offiziell für ausländische Kriegsgefangene vorgesehenen Einrichtungen verlegt würden (Kapitel A 31.). Wenn jedoch weder das überflüssige Gefangenenlager noch der offensichtlich nicht für eine Befreiung Kubas vorgesehe Militärstützpunkt eine Fortsetzung der US-Präsenz in Guantanamo rechtfertigen, bleibt die spannnende Frage nach den eigentlichen Zwecken offen.

Um noch gefühlte zwei Stufen surrealer erscheint das Phänomen Nordkorea. Die koreanische Halbinsel hat geostrategisch eine Lage, von welcher aus die Entfernung zur US-Westküste kürzer ist als von China aus. Die Grenznachbarschaft zu China ist jedoch dafür geeignet, einen Raketenangriff auf US-Gebiet ggf. den Chinesen in die Schuhe schieben zu können - oder den Russen, mit denen ebenfalls Grenznachbarschaft besteht. Natürlich kann amerikanische Sattellitenüberwachung in beiden Fällen den kleinen aber entscheidenden Unterschied bemerken - eigentlich. - Doch wie generell im Kapitalismus erhebt sich die Frage, ob die Wahrheit auch politisch erwünscht ist, denn ...

  • noch weniger als andere sozialistische Regime in Gegenwart und Vergangenheit hat die Regierung Nordkoreas irgend etwas mit den Ideen von Karl Marx zu tun, für deren Verwirklichung sie den Lippenbekenntnissen nach voller Opferbereitschaft steht. – Geopfert wurden dafür allerdings nicht Regierungsmitglieder und politische Kommissare, sondern über 5 Mio koreanische Zivilisten und Soldaten, also einfache Bürger des Landes, das angeblich befreit werden sollte.
  • Statt einer philosophischen Nähe zu Marx zeigt die nordkoreanische Führungselite das volle Profil des Kapitalismus:
  1. Bereits die Inkaufnahme dermassen vieler Opfer zeigt eine gegenüber der eigenen Bevölkerung völlig unsolidarische Herrschermentalität.
  2. Die Macht wird in einer Familiendynastie über die Generationen weitergegeben (Kim Il Sung als Staatsgründer, dessen Sohn Kim Jong Il sowie aktuell Enkel Kim Jong Un).
  3. Rund 50 % der Wirtschaftsleistung des Landes stammen von etwa 150.000 nordkoreanischen Wanderarbeitern in aller Welt, die den Grossteil ihres Verdienstes an ein sog. Büro 39 schicken müssen. / Vgl. People &Power, Bureau 39: Cash for Kim, in Aljaseera, Referenz https://www.aljazeera.com/program/people-power/2020/9/24/bureau-39-cash-for-kim/
  4. Über diese Einnahmen verfügt exklusiv das Staatsoberhaupt – und führt sie hauptsächlich seinem Atom- und Raketenprogramm zu.
  5. Da die Devisen zu wenig für den Kauf moderner Industrieanlagen verwendet wurden, bleibt die Wirtschaft rückständig. Die Menschen werden wie auf Kuba zu extremer Anspruchslosigkeit und knapper Bewegungsfreiheit erzogen.
  6. Die Staatsfunktionäre geniessen den Status eines privilegierten Establishments und dürfen als einzige PKW benutzen.
  7. Nur Personen mit zurückbleibender Familie werden als Wanderarbeiter ausser Landes gelassen, um ein Druckmittel für die Rückkehr zu behalten.
  8. Die Wanderarbeiter werden ausgebeutet, indem sie ihren Lohn nicht für sich und ihre Familien behalten dürfen.
  9. Es findet Vertuschung statt, indem die Arbeiter nicht über diese ihre Verhältnisse reden dürfen.
  10. Die Medien Nordkoreas werden völlig von der politischen Führung kontrolliert.
  11. Diese Kontrolle wird zu extremer Polarisierung und Feindbildprägung namentlich gegenüber den USA und Südkorea genutzt.
  12. Brisante Dokumentarvideos zu dem Thema werden den Bürgern im „Westen“ nur für wenige Monate und teilweise mit regionaler Beschränkung im Internet zugänglich gehalten. / ZDF.de

Das System ist damit weiter von der marxschen Vision einer klassenlosen Gesellschaft und freien Assoziation entfernt als selbst das aktuelle kapitalistische, was aber „westlichen“ Bürgern nicht bewusst werden soll. Indem die Menschen in Nordkorea systematisch im „Agentic State“ gehalten, indoktriniert und überwacht werden, kommt das Profil des Landes vielmehr der Antivision des „Orwellschen Staates“ bemerkenswert nahe. Bedenkt man, dass die kapitalistischen „westlichen“ Länder zunehmend auf eben dasselbe Profil zugesteuert werden, kann das (nord)koreanische System als Experiment interpretiert werden, mit dem sich die Unterordnungsbereitschaft von Menschen in eine orwellsche Ordnung austesten lässt. Diese surreal anmutende Interpretation würde bedeuten, dass das koreanische Experiment bereits von Anfang an in Absprache mit Stalin angesetzt und bis heute unter ihrer Kontrolle behalten hätten.

Selbst wenn die Wahrscheinlichkeit auch nur 1% betragen sollte, dass ein derartiger Experimentalstatus besteht, gehört der vage Verdacht doch zwingend in dieses Buch. Auch sonst gilt dessen kritische Aufmerksamkeit ganz besonders solchen Dingen, welche in der vom Mainstream vermittelten Welt nicht vorkommen – und gerade dadurch so gefährlich sind.

So werden immer wieder US-Sanktionen gegen Nordkorea thematisiert, was dazu geeignet ist, das Bild eines gemeinsamen Dauerfeindes der Welt am Leben zu erhalten. Selbst Kritiker, die im Falle Russlands oder Irans argwöhnen, dass die US-Sanktionen nicht den Interessen der amerikanischen Nation dienen, sondern denen des Grosskapitals, haben keine Zweifel bezüglich der Echtheit der politischen Position Nordkoreas . Doch abgesehen davon, dass dies ein seltener Fall von authentisch solidarischem Schulterschluss zwischen Kapitalisten und amerikanischer Nation wäre, geben - zusätzlich zum Proflbild eines gesteigerten Kapitalismus - zwei weitere Fakten Anlass zum Grübeln:

  1. Die CIA ist hinsichtlich Nordkoreas mit zwei Aufgaben betraut, erstens den Rüstungsfortschritt zu beobachten und zweitens Empfehlungen auszusprechen, welche Güter oder Firmen als nächste in die Sanktionen einbezogen werden sollen. Die seit Jahrzehnten laufenden Sanktionen behindern die Beschaffung der jeweils aktuell von der nordkoreanischen Führung benötigten Rüstungs-)Güter jedoch nicht substanziell, wie u.a. die erfolgreichen Raketenstarts zeigen.
  2. In dem sonst industriell rückständigen Land werden seit wenigen Jahren industrielle Forschungs- und Entwicklungszentren eingerichtet. Diese alle wesentlichen Bereiche der technischen Zivilisation abdeckenden nordkoreanischen Forschungsinstitute ergeben rein ökonomisch wenig Sinn, denn Forschung und Entwicklung dienen dazu, neue Wege und Erkenntnisse zu erkunden – und nicht dazu, das Rad neu zu erfinden. Tausende von gescheiterten wirtschaftlichen Experimenten in den sogenannten sozialistischen Ländern haben gezeigt, dass sich unter Planwirtschaft ohne freie Initiative seiner Bürger keine wettbewerbsfähige technische Kreativität entfalten kann. Forschung in Nordkorea macht daher soviel Sinn wie Bananenproduktion in Grönland - eigentlich.

Doch im Horrorszenario eines Atomkrieges der USA gegen China und/ oder Russland könnte sich Nordkorea, obwohl von dort aus die entscheidend eskalierenden Raketen abgefeuert worden sein könnten, neutral verhalten. Lange nach dem grossen, für die Kriegsgegner und eventuell auch für die übrigen technisch führenden Länder verheerenden Krieg - je nach Umfang auch mit nachfolgendem atomarem Winter - könnten die Überlebenden aus ihren aufwändigen Bunkern und unterirdischen Städten hervorkommen. – Sie würden dann mit den nordkoreanischen Instituten sofort über funktionierende Starterkits verfügen, um die Zivilisation neu aufzubauen – in überschaubaren Dimensionen. Überschaubar hiesse dann auch dauerhaft im “langsamen” Modus mit bereits erprobten Methoden der Kontrolle und mit den perfekt untertänigen Bürgern. – In dieser atomaren Version der biblischen Geschichte von der Arche Noah hätte dieses allerletzte Rettungsboot nur Platz für “the people who own the society”, ein paar Funktionäre sowie eine Schaar untertäniger Gefolgsleute.

Am aktuellen historischen Scheideweg geht es jedoch nicht um Rettungsboote, sondern um den nachhaltig korrekten Kurs des Schiffes der prospektiven Grossen Allianz und ihrer zivilisierten Partnerländer. Wie es zu Anfang des Kapitels A 30. hiess, “sitzen alle in einem Boot - die Kapitalisten, die Masse der einfachen Bürger sowie die fair marktwirtschaftlich arbeitenden Unternehmer, Kaufleute und Handwerker“.