A 26
Parteien

Im scharfen Gegensatz zu den Instrumenten und Institutionen des demokratischen Rechtsstaates erfahren die Instrumente der inoffiziell Mächtigen eine laufende Anpassung an den technischen Fortschritt sowie eine Effizienzsteigerung der Strategien. Dazu gehört auch, dass über die Medien von Zeit zu Zeit neue Schlagworte  lanciert werden, entweder negativ besetzt wie „extremistisch“ oder solche, mit denen eine Erscheinung als „modern“ propagiert werden soll. Zu Letzteren gehört auch „ Verfassungspatriotismus“. Der Begriff impliziert allerdings eine in der Wirklichkeit nicht existierende Gegenpoligkeit zum eigentlichen Patriotismus, denn  tatsächlich bedingen beide einander. Patriotismus kann sich nur unter dem Dach einer frei  gewählten Verfassung demokratisch verwirklichen und umgekehrt bleibt ein auf das gemeinsame Bekenntnis zur Verfassung reduzierter Patriotismus - als losgelöster Verfassungspatriotismus - weitgehend ohnmächtig, solange die Gesellschaft tribalistisch zerstritten ist. 

Diese Ohnmacht liegt im Charakter des demokratischen Wahlrechts als Gruppenrecht begründet, was einer Erläuterung bedarf. - Die Verfassung definiert außer den Grundregeln des Zusammenlebens - mit verschiedenen individuellen Rechten - auch den Überbau des demokratischen Staates mit seinen Institutionen und Organen sowie deren Zuständigkeiten und Machtumfang im Sinne einer möglichst weitreichenden Gewaltenteilung. Doch noch über der Gewaltenteilung, der Aufteilung der demokratischen Macht, steht die Demokratie selbst, also die Macht, die von der Nation ausgeht, als höchstes Prinzip. Auch wenn das Individuum autonom an Wahlen und Abstimmungen teilnimmt, so ist es im Resultat stets die Nation, welche ihre demokratische Macht ausübt, indem sie ihrem Willen Ausdruck verleiht; das Gewicht eines einzelnen Individuums im Wahlergebnis ist dagegen verschwindend gering. 

Demokratie benötigt daher ausser Verfassungspatriotismus, also dem gemeinsamen Bekenntnis zur demokratischen Verfassung, auch einen eigentlichen, moderaten, Patriotismus da ohne dieses Minimum an Solidarität gar keine handlungsfähige, in einem Grundkonsens verbundene Nation existiert, welche die demokratische Macht im Staat auszuüben vermag. Daher enttarnen sich alle propagandistischen Angriffe auf die solidarische Nation und den für die Wahrnehmung ihrer Interessen notwendigen Patriotismus zugleich als Angriffe auf die Demokratie. – Denn das von der schwindenden Nation zurückgelassene Machtvakuum kann von den Finanzmächtigen besetzt werden. 

Es geht sehr rasch, die Macht zu verlieren, besonders dann, wenn man es nicht einmal merkt. - Aussitzen und Hoffen allein kann sie nicht zurückbringen, was Martin Luther-King sehr treffend formulierte: „We know through painful experience, that freedom is never voluntarily given by the oppressor, it must be demanded by the oppressed.“ – Wir wissen aus schmerzlicher Erfahrung, dass Freiheit von einem Unterdrücker niemals freiwillig gewährt wird, sie muss von den Unterdrückten gefordert werden. / Martin Luther-King, Letter From Birmingham Jail, April 16, 1963

Wie wenig dem demokratischen Grundgedanken ohne eine weitgehend solidarische Nation entsprochen wird, zeigen die politischen Grabenkämpfe zwischen den Parteien, die sich in einem zunehmend tribalistischen Modus abspielen und die Nation aus dem Fokus verlieren. Von der Definition her konstituieren sich Parteien jedoch als Teile einer übergeordneten Einheit, nämlich der betreffenden Gesellschaft.  Als weltanschauliche Gruppierung, nicht als Interessengruppe, ist jede von ihnen der Überzeugung, die Interessen der Nation auf ihre spezifische Weise am besten wahrnehmen zu können. In diesem authentischen Profil demokratischer Partei- und Parlamentsarbeit dienen Debatten zwischen den Parteien dazu, die jeweils eigene Sicht an derjenigen der anderen abzugleichen, zu überdenken und ggf. zu modifizieren. Auf innerparteilicher Ebene wird die in diesem Abgleich optimierte  parteieigene Sicht klar definiert und in Prinzipien gefasst. Diese werden den Bürgern in Form eines erläuternden Parteiprogramms vorgelegt und dienen ansonsten dazu, die Antworten auf die jeweiligen tagespolitischen Herausforderungen abzuleiten. 

Doch von diesem Idealbild haben sich die Parteien in den sogenannten westlichen Staaten recht weit entfernt. Das Set an konsistenten und rational abgeleiteten Prinzipien in den jeweiligen weltanschaulichen Sichtweisen ist meistens lückenhaft, sodass es für die Herleitung klarer Handlungsmaximen im politischen Alltag nur begrenzt taugt. Die – wie im Eingangskapitel A 1. aufgezeigt – aus diesem Mangel resultierende „pragmatische“ Politik, lässt daher weitgehend den Kompass bzw. die GPS-Funktion vermissen, welche das Schiff auf dem konsequent freiheitlichen, demokratischen und rationalen Kurs halten sollte. 

So wird seit Jahrzehnten kein Anstoss daran genommen, dass es dem Prinzip der Gewaltenteilung klar zuwiderläuft, wenn - wie u.a. in Deutschland - Regierungsmitglieder (Exekutive) gleichzeitig stimmberechtigte Mitglieder des Parlaments (Legislative) sind. Derselbe Mangel ist bei der Besetzung hoher Richterämter (Judikative) festzustellen, auf welche die Parteien (bereits mit Macht in Legislative und Exekutive ausgestattet) massiv Einfluss nehmen. Zusätzlich liegt hier eine offenkundige Diskriminierung parteiloser Juristen vor.

Auf einer weiteren Ebene durchmischen sich - namentlich im Falle der Regierungsparteien - die parallelen Tätigkeiten derselben Personen in Regierung, Parlament, Fraktion und Partei. – Dabei konzentriert sich bedenklich viel Macht in den Händen der jeweiligen Spitzenvertreter. - Und gerade an diesen politisch höchstrangigen Personen lässt sich zunehmend eine Mentalität beobachten, welche einen Kerngedanken der Demokratie kalt beiseite schiebt, nämlich den der Souveränität der Nation.  Letztere bestimmt in demokratischen Wahlen Vertreter – und zwar Vertreter ihrer Interessen und nicht Vertreter tribalistischer Interessen der gewählten Parteien und Personen. Ayn Rand durchschaute diese Art mentaler Programmierung bereits 1974: „On this view, a man does not seek to be elected to a public office in order to carry out certain policies – he advocates certain policies to be elected” - Aus diesem Blickwinkel betrachtet eine Person nicht danach, in ein öffentliches Amt gewählt zu werden, um eine bestimmte Politik zu praktizieren, sondern sie vertritt eine bestimmte Politik, um gewählt zu werden.Ayn Rand, Philosophy, S. 67. 

Eine solche flache Motivlage, bei welcher Macht zum Selbstzweck oder gar zum Instrument versteckter fremder Interessen gerät, lässt sich leicht beobachten – falls als Grundvoraussetzung für mündiges Bürgertum gesunde Skepsis eingeschaltet ist. Professor Noam Chomsky ist solchen Machtverschachtelungen nachgegangen, u.a. in seinem Buch Manufacturing Consent – The Political Economy of the Mass Media (Erstveröffentlichung bereits 1988, später aktualisiert). Nach seinen Recherchen besteht eine enge Verzahnung zwischen den maßgeblichen politischen Kräften und der Medienlandschaft, welch letztere wiederum verschiedene miteinander verwobene Gruppierungen umfassen, nämlich die Medienkonzerne, die dahinter stehenden Investoren, die Nachrichtenagenturen sowie die ausführenden Journalisten in den Redaktionen. 

Die Uneinigkeit der Bürger und ihre Spaltung in Linke, Rechte, Grüne, Religiöse, Liberale usw, zunehmend auch die sinnfreie Polarisierung zwischen Männern und Frauen, Homo- und Heterosexuellen führt dazu, dass alle gegeneinander ausgespielt werden und letztlich die Interessen der Gesellschaft als Gesamtheit vollkommen aus der Wahrnehmung geraten. Vielmehr kommt es in den „westlichen“ Ländern je nach den Mehrheitsverhältnissen mal mit der einen, mal mit der anderen Partei zu politischen Entscheidungen, welche den Interessen der Gesellschaft wenig bis gar nicht dienen, umso mehr jedoch denen einer winzigen ultra reichen Minderheit. 

Das sind Militäreinsätze und hohe Rüstungsausgaben sowie konzern freundliche Wirtschaftspolitik mit den Konservativen, lasche Strafverfolgung und nicht nachhaltige Hilfs- und Förderprogramme für den „kleinen Mann“ mit den Linken, Privatisierung von Staatseigentum mit den Liberalen und Blockierung von Infrastrukturprojekten mit den Grünen.

Praktisch nie läuft die Entwicklung in die rationale, den Interessen der Nationen tatsächlich dienende Richtung, obwohl dies die Profile der verschiedenen Parteien durchaus hergeben würden, nämlich effektive und den psychologischen Erkenntnissen entsprechende nachhaltige Kriminalitätsbekämpfung sowie Stärkung der Familien mit den Konservativen, Privatisierungsstop und Eindämmung der Konzernherrschaft mit den Linken, endlich befreite Marktwirtschaft mit den Liberalen und nachhaltige Landwirtschaft sowie weltweite Koordination des Umweltschutzes mit den Grünen.

Funktionierender, das heißt, von propagandistischer Manipulation befreiter demokratischer Pluralismus ist Voraussetzung für konstruktive Debatten und gegenseitige Anregung für das Auffinden des besten Weges - nicht des am leichtesten durchsetzbaren Kompromisses.

Die Befreiung von der Leine der Manipulation gelingt allerdings nur, wenn man versteht, wie sie funktioniert – nämlich insbesondere durch eine kleinlich-tribalistische Programmierung der politischen Parteien und Gruppierungen, sich wechselseitig als erbitterter Gegner wahrzunehmen. Verstärkt wird der desintegrierende Effekt dadurch, dass die Menschen allgemein von der Einsicht ferngehalten werden, dass der Umgang selbst mit bisherigen Feinden Chancen auf konstruktive Impulse bietet, wenn man akzeptiert, dass auch diese - von ihnen aus betrachtet - begründete Sichtweisen vertreten. Der Bürgerrechtler Martin Luther King hatte als einer der Wenigen dieses Prinzip durchschaut:

Part 1: „Here is the true meaning and value of compassion and nonviolence, when it helps us to see the enemy's point of view, to hear his questions, to know his assessment of ourselves. – Hier ist die wahre Bedeutung und (der) wahre Wert von Mitempfinden und Gewaltlosigkeit, wenn sie uns hilft, die Sichtweise des Feindes zu erkennen, seine Fragen zu hören und seine Wahrnehmung/ Einschätzung von uns zu wissen. Martin Luther-King jr.

Part 2: „For from his view we may indeed see the basic weakness of our own condition, and if we are mature we may learn and grow and profit from the wisdom of the brothers who are called the opposition.“ – Denn von seinem Standpunkt aus könnten wir tatsächlich unsere grundsätzliche(n) Schwäche(n) erkennen und wenn wir reif sind, können wir lernen und wachsen und von der Weisheit der Brüder profitieren, welche die Opposition genannt werden. Martin Luther King jr.

Von diesem emanzipierten Point of View/ Standpunkt aus wird auch bewusst, dass der hier verwendete Begriff „Feind“ beschämender Weise oft tatsächlich die psychologische Wahrnehmung politischer Gegner wiedergibt, und zwar insbesondere solcher – in Wahrheit Gesprächspartner – jenseits der verordneten „Political Correctness“. Die überhöhte Wahrnehmung von „Feinden“ innerhalb der eigenen Gesellschaft ist ein zutiefst tribalistisches, desintegrierendes Element, das autonom urteilenden Menschen weitgehend fremd ist. Auch an dieser Stelle wird deutlich, wie unverzichtbar die Überwindung des tribalistischen Elements im Menschen für Integration, Harmonie, Konstruktivität und die Freiheit des Denkens ist.

Martin Luther-King hat auch diese elementare, für die Menschheit schicksalentscheidende Bedeutung knapp und treffend herausformuliert: „The choice is not between violence and nonviolence but between nonviolence and nonexistence.“ – Die Wahl ist nicht (die) zwischen Gewalt und Gewaltfreiheit, sondern (die) zwischen Gewaltfreiheit und Nichtexistenz/ Untergang. / Martin Luther-King jr.