A 02
Objektivismus und marxsche Philosophie

Dieses und das folgende Kapitel A 3. erläutern die Ursprünge des vorliegenden Gedankengebäudes in zwei vermeintlich gegensätzlichen Philosophien. A 2. erklärt zudem die Überlegenheit einer tatsächlich freien Marktwirtschaft gegenüber der aktuellen kapitalistischen Oligopol-Wirtschaft. Leser, die unmittelbar auf politisch brisante Themen stoßen möchten, können zu Kapitel A 4. springen.

Karl Marx hat die angebliche Verwirklichung seiner Ideen nicht mehr erlebt, jedoch bereits beginnende Verfälschungstendenzen. Diese und die große Vielfalt der angeblich marxistischen Experimente haben den Begriff „Marxismus“ außerordentlich verwässert. Daher erscheint es unfair, das wirtschafts- und gesellschaftspolitische Scheitern des realen Sozialismus durch Verwendung des Begriffs „Marxismus“ unmittelbar mit seinem Namen zu verbinden. Es lässt sich vielfach belegen, dass der faktische Wegbereiter des gescheiterten Systems, W.I. Lenin, nicht etwa zweitrangige Details, sondern das eigentliche Wesen, den Kern der marxschen Philosophie, verfehlt hat. Dieses Wesen, entspringt im wörtlichen Sinn dem Persönlichkeitsprofil von Marx im Vergleich zu demjenigen Lenins. Der erstgenannte war einer der wenigen Menschen, die grundsätzlich im „Autonomous State“, also frei und selbstverantwortlich, denken, der zweite jemand mit den Charaktereigenschaften eines Formalisten und rücksichtslosen Machtmenschen (siehe Kapitel 19.), dessen Handeln ausgesprochen wenig von Verantwortung und dafür umso mehr von Demagogie und Gewaltbereitschaft geprägt war.

Wohl aber kann man von einer marxschen Philosophie sprechen, und zwar einem umfassenden und in sich schlüssigen Gedankengebäude zu politischen Themen wie Macht, Ausbeutung und Gesellschaft, welches universell gültige Entwicklungs Gesetzmässigkeiten präsentiert.Trotz einiger erklärbarer Fehler (Kapitel A 3.) existiert ein wahrer und absolut bedeutender Kern in dieser Lehre. Darin finden sich Feststellungen, mit denen Marx seiner Zeit weit voraus war und welche bis heute sogar erheblich an Aktualität gewonnen haben. Dieser Kern kristallisiert sich um Beobachtungen zur historischen Entwicklung der Klassen und Klassengegensätze, nach welchen die jeweilige Oberschicht stets durch eine Reihe von Eigenschaften gekennzeichnet war, darunter das Erzielen arbeitsfreier Einkünfte und den Anspruch auf ein Machtmonopol. Die Herrschaftsstrukturen, so erkannte Marx, passen allerdings infolge des wirtschaftlich-technischen Fortschritts irgendwann nicht mehr zu den modernisierten Produktionsmethoden. – So hatte sich die Produktion seit der Erfindung der Dampfmaschine zunehmend aus dem handwerklichen, familiär-häuslichen Bereich in den der wachsenden Fabriken verlagert – und damit in einen Rahmen, der sich durch hochgradige Arbeitsteiligkeit und durch die Einbeziehung sehr vieler, einander größtenteils unbekannter Menschen auszeichnet. 

Marx sah den Betriebseigentümer jedoch nicht in diese Arbeitsteiligkeit eingebunden.„Die Zeit, die ein Kapitalist im Austausch verliert, ist als solche kein Abzug von der Arbeitszeit. Kapitalist – d.h. Repräsentant des Kapitals, personifiziertes Kapital ist er nur, indem er ... sich fremde Arbeitszeit aneignet und sie setzt. Die Zirkulationskosten existieren also nicht, insofern sie die Zeit des Kapitalisten wegnehmenSeine Zeit ist als überflüssige Zeit gesetzt: Nicht-Arbeitszeit, nicht wertschaffende Zeit, obgleich es das Kapital ist, das den geschaffenen Wert realisiert. Das, dass der Arbeiter Surplus Zeit arbeiten muss, ist identisch damit, dass der Kapitalist nicht zu arbeiten braucht und so eine Zeit als Nicht-Arbeitszeitgesetz ist; dass er auch nicht die notwendige Zeit arbeitet. Der Arbeiter muss Surplus Zeit arbeiten, um die zu seiner Reproduktion notwendige Arbeitszeit vergegenständlichen, verwerten, i.e. objektivieren zu dürfen.(Fettdruck nachträglich)/ Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen ÖkonomieMEW Bd. 42, S. 524

Die vom Kapitaleigner eingesetzte Zeit für das Setzen seiner Investition sah Marx zu Recht nicht als Arbeitszeit an, da bloße Investition noch keinen  wertschöpfenden Vorgang darstellt. Wird die Investition jedoch von planerischen und organisatorischen Tätigkeiten begleitet, liegt bereits ein Übergang zu einem gänzlich anderen Typ von Unternehmer vor. Dessen  idealtypischer Vertreter hat seine Firma aus einem Handwerksbetrieb aufgebaut, mutet sich eine 60(+)-Stunden-Woche zu, kümmert sich selbst um die Organisation der Arbeitsabläufe, sichert die Wettbewerbsfähigkeit durch innovative Ideen und gibt für alle Mitarbeiter ein motivierendes Vorbild ab. Es ist ein bedauerliches und politisch sehr folgenschweres Defizit der marxschen Betrachtungen, dass die sachlich notwendige Unterscheidung zwischen dem konstruktiven Unternehmer und dem lediglich Geld investierenden Kapitalisten nicht vertiefend aufgegriffen wird. (Kapitel A 6. „Kapital I – Kreativitäts Mittel" ). 

Im korrekten Kern des marxschen Weltbildes findet sich ausser den eben erwähnten  Beobachtungen zur parasitären Oberschicht auch die– wie im Kapitel A 34.„Klassenlose Gesellschaft?"Erläutert wird die gültige Perspektive einer(von Marx klassenlos genannten) Gesellschaft Der Fairness und Harmonie. Ebenso wertvoll und seiner Zeit bis heute voraus sind Màrx`Analysen Der philosophischen Verwirrungen (u. a. Kapitel 16. „Antiphilosophien und Philosophien“). Dieser mehrteilige wahre Kern des Marxismus erweist sich als vollständig kompatibel mit der - annähernd perfekt in der Realität verankerten - Philosophie Ayn Rands. Einen dagegen nur scheinbaren Widerspruch stellt die formal konträre Haltung der beiden Philosophen zum „Kapitalismus“ dar: Letztere sieht im von ihr so genannten Kapitalismus - aber korrekt ausgedrückt in der freien Marktwirtschaft -mit nachweislich gutem Grund ein für den Menschen als denkendes Wesen alternativloses Konzept, während die marxsche Philosophie den tatsächlichen Kapitalismus– ebenso zu Recht - als menschenverachtendes, ausbeuterisches System kritisiert.

„Das Kapital“ nannte Marx sein mehrbändiges Hauptwerk und „Capitalism – The unknown Ideal“, Kapitalismus,das unbekannte Ideal, nannte Ayn Rand (1905-1982) ihr wichtigstes philosophisches Werk, das in der englischen Originalfassung als Taschenbuch nur rund 400 Seiten umfasst. 

In der hier vorliegenden Integration der beiden großen, bisher fälschlich als absolut konträr geltenden Weltansichten geht es unter anderem darum, …

  • die gemeinsamen Schnittmengen der beiden Philosophien, also die grundsätzlichen Übereinstimmungen, zu benennen

  • deutlich zu machen, dass Karl Marx nicht nur eine ganz andere Seite des Kapitalismus im Fokus hatte und zum Schwerpunkt seiner Betrachtungen machte als Ayn Rand, sondern letztlich ein völlig anderes Wirtschafts- und Gesellschaftssystem.

  • aufzuzeigen, in welchen Teilbereichen ihnen jeweils Fehler unterlaufen sind und was deren Zustandekommen verständlich macht

  • zu erläutern, welche unentbehrlichen Wissens-Puzzle Steinchen beiden in ihrer jeweiligen Epoche zwangsläufig noch in ihrem Weltbild fehlten – um zu der in sich und mit der Wirklichkeit widerspruchsfreien integrierten Sicht gelangen zu können.

  • den eigentlichen Kapitalismus und seine desintegrierende Herrschaft zu analysieren

  • aufzuzeigen, dass der Kapitalismus ein tribalistisches, freiheitsfeindliches System darstellt, welches dabei ist, den demokratischen Staat zu unterminieren

  • zu belegen, dass die vom Kapitalismus angehäuften Widersprüche historisch unvermeidbar zu seiner abschließenden Überwindung führen

  • einen friedlichen und konstruktiven Weg zu seiner Überwindung u.a. aus Rechtsprinzipien, machtpolitischen und psychologischen Betrachtungen abzuleiten

Zunächst muss eine kurze Vorstellung des Objektivismus erfolgen, da über ihn namentlich in Europa wenig bekannt ist, während in den USA immerhin eine Leserschaft von einigen Millionen erreicht werden konnte. Als Begründerin der Philosophie des Objektivismus belegte Ayn Rand in ihren Werken, dass unsere heutige Zivilisation - soweit ihre Wurzeln nicht schon auf griechische und römische Denker und Wissenschaftler zurückgehen - einerseits das Produkt der philosophischen Aufklärung und der wissenschaftlichen Entdeckungen im 18. Und 19. Jahrhundert darstellt und andererseits eines überragend effektiven Wirtschaftssystems, nämlich der freien Marktwirtschaft, welche sie „capitalism“, Kapitalismus nannte.

Als russische Emigrantin hatte Ayn Rand, mit bürgerlichem Namen Alissa Rosenbaum (1905-1982) die russische Oktoberrevolution 1917, den Leninismus sowie dessen Übergang in den Stalinismus miterlebt. Unter dem starken Eindruck von Fortschritt und Demokratie nach Übersiedlung in die USA (1926) begann sie sich mit den Ursprüngen und den Funktionsmechanismen der freien Marktwirtschaft zu beschäftigen. Dabei wurde ihr klar, dass es sich bei diesem System um das dem Menschen als Verstandeswesen perfekt adäquate, hundertprozentig demokratie kompatibel und mit Abstand effektivste handelt. 

Ayn Rand entwickelte und publizierte ihre Philosophie zunächst in Gestalt von Romanen (We the Living, Anthem, The Fountainhead, Atlas Shrugged), später als Sachbücher (The Virtue of Selfishness, Capitalism, Philosophy: Who needs it und Introduction to Objectivist Epistemology).

Objektivismus nannte sie die Philosophie deshalb, weil für sie die feste und konsistente Verankerung in Wirklichkeit die Grundvoraussetzung menschlichen Denkens darstellt. Die Basis Logik ihres Weltbildes lautet: 

  • „Man's life is the standard of morality, …” Das Leben des Menschen ist der Standard/ das Fundament der Moral./ Ayn Rand, Philosophy: Who needs it, Kap. The Destroyers of the Modern World, New York 1982, S. 101 

  • „All that which is proper to the life of a rational being is the good; all that which destroys it is the evil. …” Alles, was dem Leben eines rationalen Wesens förderlich ist, ist das Gute; alles, was dieses zerstört, ist das Böse. / ebenda, S. 101

  • “Man`s life, as required by his nature, is … the life of a thinking being – not life by means of force or fraud, but life by means of achievement”. Das Leben des Menschen, so wie es seine Natur verlangt, ist … das Leben eines denkenden Wesens – nicht (etwa ein) Leben mit den Mitteln der Gewalt oder des Betruges, sondern ein Leben mit Hilfe des Schaffens von Werten.  / ebenda, S. 101 f.

Dieses letzte Stichwort, achievement, hier frei übersetzt mit „Schaffen von Werten“, bildet den materiellen Kern des Objektivismus, materiell deshalb, weil es sich bei den Werten um zu Materie gewordene Ideen von Menschen handelt. Die Ideen ihrerseits sind der rationalen Auseinandersetzung des Menschen mit der realen Umwelt entsprungen, in der Steinzeit zunächst mit wilden Tieren, Nahrungspflanzen und mit verschiedenen Materialien wie u. a. Steinen, aus denen sich einfache Werkzeuge oder Speerspitzen für die Jagd anfertigen ließen. 

Werkzeuge erlauben es, Produktionsvorgänge zu erleichtern. In der Ökonomie spricht man von einem produktiven Umweg. Statt wie Tiere den unmittelbaren Zugriff auf die Nahrung anzustreben, stellt der Mensch erst die Hilfsmittel/ Werkzeuge her, um anschließend effektiver produzieren zu können. Will man beispielsweise Stoffe für Kleidung In größerem Umfang produzieren, ist es sinnvoll, erst einen Webrahmen herstellen und zu weben, als sich mit Stricknadeln mühsam voran zu quälen.

Die Entwicklung und die schrittweise Verbesserung solcher Produkte menschlichen Erfindungsgeistes im Verlaufe der Evolution bzw. Geschichte hatten Folgen, die über einen bloßen Zuwachs an Komfort, Arbeitserleichterung sowie Schutz vor Witterung und wilden Tieren weit hinausgingen. So kann man mit Mähdrescher und Traktor oder selbst mit Sense und Ochsenpflug auf derselben Fläche wesentlich mehr Nahrung erzeugen als durch Jagen mit Speer und Sammeln von Wurzeln und Früchten mit bloßen Händen. Die verbesserten Geräte, Gebrauchsgegenstände und Techniken ermöglichten außer einer Mehrproduktion auch, bereits erzeugte Nahrung besser haltbar zu machen und über weitere Strecken zu transportieren – wodurch sich die allgemeine Versorgungslage verbesserte.

Letztlich ließen die Fortschritte bei der Herstellung von Geräten und die Verfeinerung der Techniken einen deutlichen Anstieg der Einwohnerzahl zu, indem, wie es in der Ökologie formuliert wird, der Nahrungsspielraum vergrößert wurde. So leben bis heute Menschen in Jäger- und Sammlerkulturen - beispielsweise im Inneren von Neuguinea und im Amazonastiefland - in einer Dichte von weniger als einem Einwohner pro qkm, während auf der Basis von Reisanbau auf Bewässerungsland in verschiedenen Regionen Asiens mehr als Tausendmal so viele Personen ernährt werden können. 

Dieser kleine gedankliche Umweg über die Bedeutung der geistigen Leistungen für die quantitative Entfaltung menschlichen Lebens macht den ethischen Ansatz des Objektivismus leichter verständlich:

Aus dem Recht auf Leben jedes einzelnen Menschen ergibt sich im Objektivismus das Eigentumsrecht an den - offenkundig das Überleben sichernden - Gegenständen. Eine Verletzung des Eigentumsrechts stellt prinzipiell einen Angriff auf das Recht zu leben dar. Außer dem Eigentumsrecht folgt aus dem Überlebensrecht auch das Recht auf persönliche Entscheidungsfreiheit, das heißt, jeder muss selbst über die Maßnahmen bestimmen dürfen, mit denen er/sie – nach Befragung des eigenen Verstandes – sein Überleben zu sichern gedenkt.

In der Zivilisation bedeutet diese Freiheit, dass es jedem gestattet sein muss, sich als Handwerker, Kaufmann, Landwirt, Dienstleister oder in jeglicher anderen Disziplin wirtschaftlich selbständig zu machen, nach dem Motto „eigene Ideen, eigene Initiative, eigene Entfaltungsmöglichkeit, eigener Betrieb, eigenes Risiko“. 

Ayn Rand gelingt es, in kompakter, glasklarer Argumentation plausibel zu machen, dass in einer freien Marktwirtschaft grundsätzlich …

  1. das Prinzip der Einvernehmlichkeit beim Tausch bzw. Kauf von Waren und Dienstleistungen für Fairness und gerechten Ausgleich sorgt

  2. die variable Preisgestaltung nach Angebot und Nachfrage eine stetige Versorgung garantiert

  3. ein fairer Wettbewerb zwischen den Unternehmen um tüchtige Mitarbeiter auf dem Arbeitsmarkt für Vollbeschäftigung sorgt, so dass keine Dauerarbeitslosigkeit existiert

  4. der faire Wettbewerb zugleich den gut organisierten Betrieben das Erzielen von hinreichenden Gewinnen und damit Investition in weitere Modernisierung gestattet.

  5. die Modernisierung ihrerseits eine Produktivitätssteigerung nach sich zieht, welche sowohl weitere Investitionen wie auch Lohnsteigerungen ermöglicht

  6. der Maßstab für den fairen Lohn dynamisch abhängig vom jeweiligen technischen Entwicklungsstand und damit von der Produktivität ist, also abhängig vom Wert der produzierten Güter pro Arbeitsstunde (Arbeitsproduktivität)

  7. die tatsächliche Realisierung des fairen Lohns in einem freien, nicht manipulierten Arbeitsmarkt durch den Wettbewerb zwischen den verschiedenen Unternehmen gewährleistet ist

  8. talentierte und risikobereite Menschen faire Chancen für eine Existenzgründung antreffen, so dass der Wettbewerbsdruck für die bereits existierenden Betriebe sich durch Neugründungen (Startups) fortwährend erneuert

  9. diese ständige Erneuerung des Wettbewerbs dafür sorgt, dass sich keine Oligopole am Markt etablieren können

  10. ein systemkonformer Geldmarkt von einer zinsbringenden Sparmöglichkeit und Teilhabe am Produktivvermögen (Aktienerwerb) der Bürger gekennzeichnet ist

  11. die Geldmenge, welche in Form von Bankkrediten (u.a.) an Unternehmen ausgegeben wird, durch Sachwerte reichlich abgesichert ist

  12. durch die Limitierung eine spekulative Übertreibung von Investitionstätigkeiten in einzelnen Sparten oder auch gesamtwirtschaftlich – als Konjunkturüberhitzung - weitgehend vermieden werden kann 

  13. eine allgemeine wirtschaftliche Depression, wie sie einer solchen Konjunkturüberhitzung oder sonstigen Spekulationsblase folgen kann, schlimmstenfalls den Umfang einer leichten Rezession annimmt, in deren Verlauf falsche Investitionsentscheidungen korrigiert werden, während definitive Wirtschaftskrise nie durch den freien Markt, sondern allein durch gewaltsame äussere Störeinflüsse (Krieg, Revolution, staatliche oder andere manipulative Eingriffe) zustande kommen.

Alle diese Feststellungen sind jede für sich logisch begründet und bilden zusammengenommen den Kern des in sich konsistenten Konzepts der freien Marktwirtschaft, wie es beispielsweise auch John Locke (1632-1704) und Adam Smith erklärt hatten. Die theoretische Stimmigkeit verwundert nicht, denn das System wird von der Natur so vorgelebt, und zwar im Naturhaushalt, der sogenannten Ökologie. Diese funktioniert nach eben diesem Marktprinzip seit Hunderten von Jahrmillionen – Angebot und Nachfrage, freier Wettbewerb und Preisbildung für Waren und Dienstleistungen: Insekten, Vögel (u.a. Kolibris) und sogar einige Säugetierarten stehen mit den verschiedensten Blütenpflanzenarten als Bestäuber in „Geschäftsverbindung“. Die Bezahlung dieser Dienstleistung geschieht üblicherweise in Nektar. Die angebotene Menge wie auch die Zusammensetzung und Konzentration ist von einer Pflanzenart zur anderen unterschiedlich, ebenso die Tiefe, die Gestalt und Farbe der Blüten, so dass jede Nachfrage auf ein passendes Angebot trifft. Dabei muss eine Pflanzenart im Wettbewerb um „Kunden“ schon etwas bieten, denn „Mogelpackungen“ können von den lernfähigen Bestäubern gemieden werden.

Ein mindestens ebenso reges „Geschäftsleben“ existiert rund um das logistische Thema der Samenverbreitung von Pflanzen. Soweit diese nicht durch Wind oder Sondermechanismen (Klettfrüchte, Springfrüchte, Schwimmfrüchte usw.) bewerkstelligt wird, bieten sich die verschiedensten Tiere, vor allem Vögel und Säuger an, diese Arbeit gegen eine angemessene Vergütung zu übernehmen. Letztere bestehen zumeist aus Fruchtfleisch; indem die in den Früchten enthaltenen hartschaligen Samen den Verdauungsvorgang im Regelfall unbeschadet überstehen, werden sie auf den Reisen der Früchteverzehrer in der Gegend verteilt. Es ist das typische Win-Win-Prinzip (beide Seiten profitieren), welches all jene widerlegt, die unterstellen, dass Profit stets zum Nachteil von anderen gemacht wird. Es gilt vielmehr zu unterscheiden, in welchen Konstellationen Profit fair und ausgewogen entsteht und in welchen anderen einseitig und ausbeuterisch (Kapitel A6. „Kapital I“ und AN 7. „Kapital II“).

Doch Ayn Rand verstand das von ihr beschriebene und gelobte Wirtschaftskonzept nicht nur als theoretisches Ideal, sie identifizierte es auch als das historisch in fast reiner Form so praktizierte Ausgangsmodell unseres heutigen Wirtschaftens und damit als die Wiege der technischen Zivilisation. – Zeitlich fällt diese Blütezeit der freien Marktwirtschaft auf die ersten Jahrzehnte nach der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten, also zwischen 1776 und etwa 1850. Geographisch ist das System gleichfalls an das Staatsgebiet der USA gebunden, denn in Europa und erst recht in anderen Ländern konnte es sich nie wirklich ungehindert und unverfälscht entfalten.

Der Kernsatz des von Thomas Jefferson entworfenen Textes der Unabhängigkeitserklärung lautet: 

“We hold these truths to be self-evident, that all men are created equal, that they are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, that among these are Life, Liberty and the pursuit of Happiness”. – Wir halten diese Wahrheiten für selbstverständlich, (nämlich), dass alle Menschen gleich erschaffen wurden, (und) dass sie durch ihren Schöpfer mit unveräußerlichen Rechten ausgestattet wurden, darunter Leben, Freiheit und (das Recht), sein Glück selbst in die Hand zu nehmen, (also seinen eigenen Lebensweg zu suchen und zu gehen).

„Pursuit of happiness“ steht damit für den gesellschaftspolitischen Grundsatz, dass sich die Gesellschaftsmitglieder nicht als Untertanen einerseits und Machthaber andererseits gegenüberstehen, sondern als gleichberechtigte Bürger und Partner. Zugleich steht das Schlagwort wirtschaftspolitisch für den Kerngedanken der freien Marktwirtschaft – dass Anbieter und Nachfrager das Recht haben, sich unbeeinflusst durch verfälschende Eingriffe auszutauschen. In der Praxis bedeutet das namentlich das Unterbleiben von Beschränkungen der Gewerbeausübung und anderen einengenden staatlichen Eingriffen und Manipulationen. Weiter unten im Text der Unabhängigkeitserklärung wird konkretisiert, welche inakzeptablen Eingriffe in die Rechte der amerikanischen Kolonisten seitens des britischen Parlaments bzw. Königs die Entscheidung zur Loslösung vom britischen Mutterland unumgänglich gemacht hatten: 

“For cutting off our Trade with all parts of the world” – unseren Handel mit allen Teilen der Welt abzuschneiden

“For imposing Taxes on us without our Consent” – Uns (willkürliche Extra-) Steuern ohne unsere Zustimmung aufzuerlegen

Die freie Marktwirtschaft bietet außer den oben aufgelisteten Vorteilen auch eine hohe automatische Flexibilität. Als einfaches Beispiel kann man sich eine größere Insel oder ein Land vorstellen, die/das von einem Wirbelsturm heimgesucht wird; einige Dächer werden ganz abgedeckt und manche anderen beschädigt. Aufgrund der kurzfristig zunehmenden Nachfrage nach Ziegeln, Dachlatten, Sparren, Balken und anderen zur Reparatur benötigten Materialien steigt deren Preis. Mit diesem scheinbar negativen Mechanismus wird jedoch eine äußerst sinnvolle Prioritätenreihenfolge sichergestellt: Wo der Schaden nur optischer Natur ist, ohne dass das Dach undicht geworden wäre, wird einfach ein paar Wochen gewartet, bis sich die Preise wieder normalisiert haben. Diejenigen aber, bei denen es – wegen drohender Folgeschäden durch Regenwasser - um dringende Sofortreparaturen geht, bekommen auch tatsächlich ihre Ziegel. Der hohe Preis sichert den Kunden die Ware vor dem Zugriff anderer Kunden.

Wer hierzu eines der Fachbücher von Ayn Rand mit der nötigen Ruhe gelesen hat, wird beipflichten, dass sie nicht irgendeine, sondern die in sich konsistente philosophisch - moralische Basis der freien Marktwirtschaft liefert – nämlich als die dem Menschen als rationales und autonom handelndes Wesen auf seiner augenblicklichen Entwicklungsstufe allein adäquate Form des Wirtschaftens. Beim Lesen muss man stets beachten, dass sie mit „Capitalism" die freie Marktwirtschaft meint, nicht den von Marx zu Recht angeprangerten Kapitalismus.

Nicht zuletzt dieser unglücklichen Begriffswahl ist es zuzuschreiben, dass die so dringend benötigte Ordnung in den Köpfen der Menschen, zu welchen Ayn Rands Werke erheblich hätten beitragen können, nicht mit dem durchschlagenden Erfolg eines allgemeinen Umdenkens gelungen ist. – Dabei hängt von dieser Ordnung alles, buchstäblich alles, ab, was im menschlichen Miteinander von vorrangiger Bedeutung ist, nämlich Frieden, Freiheit, zivilisiertes Miteinander sowie ein ökologisches Gleichgewicht.

Die nach natürlichen Prinzipien funktionierende freie Marktwirtschaft wird von Rand als blitzblank sauberes, harmonisches, faires und Wohlstand generierendes Wirtschafts- und  Gesellschaftskonzept präsentiert und so außerordentlich überzeugend erklärt, dass man sich fragt, weshalb es in so unübersehbarem Kontrast zu der uns umgebenden Wirklichkeit der „Mixed Economy“ steht, hinter deren sozialer Fassade verschiedene befremdliche Elemente eines flagranten Raubtierkapitalismus sich immer weniger verbergen lassen. Solche Widersprüche hat Ayn Rand in Teilaspekten (z. B. der Figur des untüchtigen reichen Erben oder im Phänomen des Lobbyismus) klar erkannt und in ihre sonstige Philosophie konsistent integriert. Doch bleiben an dieser Stelle Lücken, in welche sich dafür bedeutende Teile der Philosophie ihres vermeintlichen Widersachers Karl Marx nahtlos und kompatibel einfügen.

In ihrem eigenen zeitgenössischen Umfeld, den USA zwischen 1926 (Einwanderung) und ihrem Tod 1982, musste Ayn Rand feststellen, dass die Menschen die oben umrissenen Grundlagen ihres Wohlstandes, also die wirklich freie Marktwirtschaft, bereits vergessen hatten und sie erkannte auch, weshalb: Erstens lag keine vollständige Philosophie rund um dieses in sich stimmige wirtschaftspolitische Konzept vor. Zweitens waren offensichtlich destruktive politische Strömungen dabei, die ehemals freie Wirtschaft zu unterminieren, zu schwächen, zu diffamieren und zu verfälschen.

Selbst einem nicht durch geistige Brillanz bekannt gewordenen Mann wie Lenin (1870-1921), blieben diese destruktiven Vorgänge namentlich in den USA und Großbritannien nicht verborgen. Sein Kommentar lautete: „Imperialism - the era of bank capital, the era of gigantic capitalist monopolies, the era of the transformation of monopoly capitalism in state-monopoly capitalism - has particularly witnessed an unprecedented strengthening of the "state machine" and an unprecedented growth of its bureaucratic and military apparatus, ...“Imperialismus –die Epoche des Bankkapitals, der Epoche gigantischer kapitalistischer Monopole, die Epoche der Umwandlung des Monopolkapitalismus in Staatsmonopolkapitalismus – hat insbesondere eine nie dagewesene Stärkung der „Staatsmaschine“erlebt und ein nie dagewesenes Wachstum des bürokratischen und militärischen Apparats“. — Vladimir Lenin2.2, Essential Works of Lenin (1966) / Referenz: https://beruhmte-zitate.de/autoren/lenin/?page=8

Solche bedenklichen Veränderungen des amerikanischen Wirtschaftssystems, welche - unter Mittäterschaft des Staates - immer weiter von der freien Marktwirtschaft wegführen, beobachtete auch Ayn Rand einige Jahrzehnte später. Das Resultat Nannte sie „Mixed Economy“, also gemischte Wirtschaft – und sie erkannte dass dieses System, welches heute in allen freiheitlichen Demokratien anzutreffen ist, sich nicht nur in einem bedenklichen Zustand, sondern darüber hinaus auf einem desaströsen Kurs befindet.

“A mixed economy is ruled by pressure groups. It is an amoral institutionalized civil war of special interests and lobbies, all fighting to seize a momentary control of the legislative machinery, to extort some special privilege at one other`s expense…”. Eine gemischte Wirtschaft bedeutet Herrschaft durch Lobbyisten. Es handelt sich um einen unmoralischen, institutionalisierten Bürgerkrieg spezieller Interessen und Lobbygruppen, alle in einen Kampf um eine vorübergehende Kontrolle der Gesetzgebungsmaschine (verwickelt), um einige spezielle Privilegien auf Kosten eines anderen für sich herauszuschneiden. / Ayn Rand, Capitalism: The unknown Ideal, New York 1967, S. 232

Dieses sehr harte Urteil sprach eine Person aus, die wie keine zweite die Vorzüge eines freien marktwirtschaftlichen Systems schätzte, es philosophisch-moralisch unterstützte und energisch verteidigte. Das Zitat belegt, in welch erschreckendem Umfang die freie Marktwirtschaft bereits Anfang der 1960er Jahre, als Ayn Rand diese Zeilen niederschrieb, durch staatliche Eingriffe verfälscht worden war – und zwar in Komplizenschaft mit dem Großkapital.

Diese Kooperation folgt einem einheitlichen und sehr einseitigen Grundmuster - indem es immer derselbe angebliche Nutzniesser ist und immer derselbe tatsächliche Profiteur- sowie immer dasselbe Opfer. Offiziell verkündeter Nutznießer war und ist stets der „kleine Mann“, dem es bald viel besser gehen würde. Mitunter wird der „Kleine Mann“ auch durch„die Öffentlichkeit“ ersetzt. Real sieht sich die Öffentlichkeit allerdings nach Jahrzehnten der Privatisierung und Schuldenpolitik enteignet und verarmt und der „kleine Mann“ hat seit vielen Jahrzehnten unverändert Probleme damit, auch nur ansatzweise etwas Vermögen aufzubauen und namentlich Wohneigentum zu bilden – trotz staatlicher Hilfsprogramme. Der tatsächliche Nutznießer des Systems ist der Superreiche, weil das viele Geld, welches er für seine Lobbyisten ausgibt, profitabel angelegt ist und reiche Ernte einbringt. An dieser sozialen Schieflage haben Regierungsvertreter und einfache Parlamentsabgeordnete mit konzernfreundlichen Steuergesetzen und Ausführungsverordnungen entscheidend mitgewirkt. Während der „kleine Mann“ und erst recht der vom Finanzamt gejagte Selbständige oder Kleinunternehmer versuchen muss, sich möglichst unauffällig unter dem Radar des Finanzamtes zu halten, hat der Kapitalist längst entdeckt, dass man nur über dem Radar wirklich ungestört fliegen kann.

Am Ende muss jemand die Steuergelder, die der Staat laufend verbraucht, aufbringen. Da sich die superreichen Kapitalisten und ihre Konzerne mit Steuerzahlungen betont zurückhalten (Kapitel A 9. „Super-Steueroasen“) und auch viele „kleine Männer“ nicht genügend Steueraufkommen zusammenbringen können, bleibt für die Rolle des ausgeplünderten Opfers fast nur der Mittelstand aus kleinen Selbständigen und Unternehmern. 

Es gehört nicht viel Phantasie dazu, sich auszumalen, zu welch gewaltigen Dimensionen der Graben Inzwischen angewachsen ist – nämlich der zwischen tatsächlich freier Marktwirtschaft und dem, was eine fortschreitende staatliche Reglementierung davon noch übrig gelassen habt, ein Graben, der die Menschen immer weiter von fair verteiltem Wohlstand, Freiheit und gesellschaftlicher Harmonie trennt. Immerhin haben seine klaffenden Ausmaße den Vorteil, dass er für aufgeklärte Menschen nicht mehr zu übersehen ist.

Doch viele einfache Bürger suchen in mystischen oder halb rationalen Deutungen und Gerüchten nach Orientierung und Erklärungen, unter anderem in verschiedenen Verschwörungstheorien. Dieser Ansatz greift jedoch ins Leere, denn eine Verschwörung ist dadurch charakterisiert, dass Personen heimlich eine Machtübernahme planen, oft eine Befreiung. Doch davon kann von der schon lange fest etablierten inoffiziellen Macht des großen Geldes keine Rede sein. 

Dass die Menschen von den gigantischen Dimensionen dieses Reichtums keine Vorstellungen haben und ebensowenig über den betreffenden privilegierten Personenkreis selbst informiert sind, liegt schlicht daran, dass die Betreffenden über exzellente Möglichkeiten des persönlichen Datenschutzes verfügen.

Die Mixed Economy besteht aus zwei Komponenten, die untereinander nicht harmonisch kompatibel sind - der freien Marktwirtschaft und dem Kapitalismus. Letzterer stellt nicht etwa die dunkle Seite der Marktwirtschaft dar, sondern ihr Antiprinzip und ihre fundamentale Bedrohung: Der mittelständische Unternehmer sucht für sein Produkt den fairen Preis auf dem freien Markt, der Kapitalist sucht den Extraprofit durch Umgehung des Marktes – über Sondervorteile, Subventionen, Preisabsprachen im Oligopol, Exklusivrechte, staatliche Lizenzen sowie überdimensionale Hürden für seine kleineren innovativen Wettbewerber. Zusammengefasst kann man die Nische, in welchem sich der Kapitalismus gewaltig entfalten konnte, mit dem Motto überschreiben „unfair, aber unter formalen Gesichtspunkten weitgehend legal“ – kein Wunder, wenn man die Gesetze mitgestalten „darf“.

Die Anfänge des Kapitalismus liegen in der Epoche der feudalistischen Adelsherrschaft und erweisen sich als wahrhaft königlich (siehe Kapitel A 4.„Imperialismus“). Die psychologischen Wurzeln eines auf Beherrschung und Ausbeutung basierenden Gesellschaftskonzepts reichen allerdings noch wesentlich weiter zurück – bis zu den ersten Stadtkulturen vor rund 7000 Jahren (Kapitel A 18. „Anonymität, Macht und ihre destruktiven Folgen“), welche den Kapitalismus historisch verständlich machen. 

Mit Blick auf die Zukunftsperspektiven besteht eine der heutigen Tragödien darin, dass Bürger und Politiker das volllaufende Boot vor dem Untergang retten möchten, indem sie Löcher in den Boden schlagen, damit das Wasser dort wieder ablaufen soll. – Das genau ist es, wenn der Staat mit weiteren Eingriffen versucht, die Symptome von Problemen zu „kurieren“, deren Ursachen in staatlichen Eingriffen liegen.

Einen naiven oder schlicht dummen Weg zugunsten eines intelligenten wieder zu verlassen, sollte normalerweise mit etwas Information und Nachdenken nicht so schwer sein. In der politischen Welt und überhaupt dort, wo es um Macht geht, ist der nüchterne Verstand jedoch keineswegs der regelmäßige Ursprung des Handelns.