Das Vereinigte Königreich Auf dem Weg zur Opferung

Von CrisHam, 15. Mai 2023

Während der gesamten Kolonialzeit war die Politik der europäischen Staaten von erbitterter Rivalität geprägt – ganz besonders von Seiten Englands bzw. Großbritanniens. Lord Palmerston umriss die Strategie seines Landes mit den Worten, "We have no eternal allies, and we have no perpetual enemies. Our interests are eternal and perpetual...” – Wir haben keine ewigen Alliierten und wir haben keine andauernden Feinde. Unsere Interessen sind ewig... Noch präziser charakterisierte der chinesische Staatsmann Sun Yat-Sen (1866-1925) diese fernab aller Ideale und echter Solidarität betriebene Politik: “The key policy of England is to attack the strongest enemy with the help of the weaker countries… When an enemy has been shorn of his power, he is turned into a friend, and the friend who has become strong, into an enemy“. Die Schlüsselpolitik Englands besteht darin, den stärksten Gegner mit der Hilfe schwächerer Länder anzugreifen… Wenn ein Feind seiner Macht entkleidet ist, wird er in einen Freund verwandelt und der Freund, der stark geworden ist, in einen Feind.


Diese pragmatische Strategie hat zwar das größte Weltreich aller Zeiten entstehen lassen, aber ohne historische Nachhaltigkeit. Den Jahrhunderten der Expansion folgte die Auflösung binnen nur weniger Jahre nach dem II. Weltkrieg. – Der Zeitpunkt des Niederganges kurz nach dem gewonnenen Krieg und damit dem größten britischen Triumph überhaupt, zeigt einen fundamentalen Irrtum Palmerstons. Dieser betrifft die Frage, wessen Interessen da in Wahrheit über ein ganzes Zeitalter hinweg bedient worden waren. 
Für aufmerksame Beobachter wurde diese Frage spätestens 1776 unmissverständlich beantwortet, als sich die 13 nordamerikanischen Kolonien als USA von ihrem Mutterland lossagten. Denn der Text der Unabhängigkeitserklärung und ebenso die Umstände um die Sezession brachten klar zum Ausdruck, dass es keineswegs um eine Auflehnung gegen Großbritannien ging, sondern allein um die Ablehnung einer absolut unsolidarischen „britischen“ Politik.

 
Diese nahm einen 8-jährigen blutigen Bürgerkrieg (Sezessionskrieg 1775-1783) zwischen Briten in Nordamerika und Briten auf der Insel in Kauf, nur um königliche Privilegien auch in Nordamerika durchzusetzen, welche Kolonien zur Ausplünderung durch skrupellose Handelsgesellschaften freigaben. Der Text der Unabhängigkeitserklärung bringt das tiefe Bedauern der Siedler über die Trennung zum Ausdruck. Diese erkannten darin jedoch den einzigen Weg, um dem unfairen, ihre Freiheit bedrohenden Modell kolonialer „Entwicklung“ zu entgehen. Denn dieses hatten die Ultrareichen bereits in anderen Ländern des Britischen Weltreichs verwirklicht – als abschreckende Beispiele.
Aus heutiger Sicht kann man es als eine der größten Tragödien der Geschichte ansehen, dass es den ideologischen Nachfolgern und/oder Nachfahren der superreichen britischen Kaufleute des Kolonialzeitalters gelungen ist, schon wenige Jahrzehnte nach der Entstehung der USA dieses geostrategisch noch weitaus besser invasionsgeschützte Land zum zweiten Zentrum ihres weltweiten Geld- und Konzern Imperiums auszubauen. In beiden Fällen zeigen Tausende von Einzelbefunden jedoch, dass sich die Lenker des Systems niemals als solidarische Mitglieder dieser „ihrer“ beiden angelsächsischen Nationen begriffen oder verhalten haben.


Vielmehr spricht alles dafür, dass die Geld Oligarchie ausnahmslos jede erfolgreiche Nation als Rivalen um die Ressourcen der Erde bekämpft hat – exakt nach der von Sun Yat-Sen durchschauten Strategie. Namentlich waren und sind es Spanien, Frankreich, Deutschland, Japan, Russland (u.a. im Krimkrieg 1853-1856 und in der vom Westen finanzierten Oktoberrevolution 1917). Auch China gehörte und gehört dazu, das in der Wende 1911/1912 bereits auf dem Weg zur Republik nach dem Vorbild der USA war. Diese historische Chance wurde durch amerikanische Finanzkreise vereitelt, die für den Sturz des 1. gewählten Präsidenten Sun Yat-Sen und dessen Ersatz durch den Diktator Yuan Shi-Kai sorgten – ein Muster, das sich später in Lateinamerika vielfach wiederholt hat.


Der Brexit, der Austritt des Vereinigten Königreichs aus der EU, hat erstens die fortbestehende Gültigkeit dieser wertevergessenen Strategie gezeigt, bei der dauerhaft freundschaftliche Bindungen und Integration in eine Wertegemeinschaft gemieden werden. Zweitens bestätigt dieser von den Mainstream-Medien mit Vehemenz gepushte Bruch, dass die britische Nation wie alle anderen erfolgreichen Nationen von den Ultrareichen stets nur als nützliches Werkzeug eingesetzt worden war – und jetzt auf das Ende seiner Verwendungstauglichkeit zusteuert.


Die Insellage hat Britannien lange einen wirkungsvollen Invasionsschutz geboten. Jahrhundertelang konnten insbesondere besagte Ultrareiche in diesem Schutz ihren egozentrischen Interessen nachgehen. Auch war es niemals schwer, die Inselbewohner für die von Dr. Sun Yat Sen durchschaute polarisierende Politik zu gewinnen, mittels derer jede einzelne der europäischen Mächte durch Verwicklung in Kriege gezielt daran gehindert wurde, die nötige Stärke für eine Invasion Britanniens aufzubauen. 
Eine vorausschauende britische Schutzpolitik hätte jedoch den Fortschritt der Verkehrs- und Waffentechnik einkalkulieren müssen. Konkret war für den unausweichlichen Moment vorzusorgen, in welchem der militärstrategische Vorteil der Insellage erlischt. Doch ohne begleitenden Bewusstseinswandel der britischen Politik ist diese Konstellation spätestens 2018 eingetreten, als Russland die ersten Avangard-Raketen in Dienst gestellt hat, die, mit Sprengköpfen der 120-fachen Energie einer Hiroshima-Bombe bestückt und mit 27-facher Schallgeschwindigkeit, jeden Winkel der Insel binnen einiger Minuten erreichen können. Invasion spielt in einem so geprägten Szenario keine Rolle.
Hinzu treten vier weitere Aspekte, unter denen klar wird, dass das Vereinigte Königreich auf dem augenblicklichen Kurs sehr zielsicher auf einen Abgrund zusteuert – unabhängig vom Schicksal der kontinentaleuropäischen Länder. 
Erstens exponiert sich Großbritannien unübersehbar vor allen anderen westlichen Ländern beim Anheizen der Eskalation gegen Russland – mit zusätzlichen Waffenlieferungen bereits vor der Invasion, mit den ersten Kampfpanzern ins Kriegsgebiet, mit den ersten Kampfjets, mit den ersten DU-Geschossen (Uranmunition, die zu rund 60 % aus U-238 besteht) und mit den ersten Marschflugkörpern großer Reichweite.
Zweitens bietet der NATO-Vertrag keine Garantie, dass Partnerländer militärisch wirkungsvollen Beistand leisten, indem der relevante Artikel 5 dafür erheblichen Ermessensspielraum lässt. Dies hatte bereits Frankreich erfahren, als es im Algerienkrieg von seinen NATO-Partnern allein gelassen wurde und es im Gegenteil inoffizielle Waffenlieferungen an die Araber gab.
Drittens ist mit dem Brexit der Schutz der EU weggefallen. Viel verbindlicher als im NATO-Vertrag heißt es dort in Artikel 42, Absatz 7: „Im Falle eines bewaffneten Angriffs auf das Hoheitsgebiet eines Mitgliedstaats schulden die anderen Mitgliedstaaten ihm alle in ihrer Macht stehende Hilfe und Unterstützung…“
Viertens erweist sich die Insellage im Gegensatz zu früher als Nachteil. Angenommen, Russland würde auf die fortgesetzten Waffenlieferungen mit einem strategisch-atomaren Warnschlag reagieren, bei dem bedeutende Teile der britischen Rüstungsindustrie schlagartig vernichtet würden. – Wie sollten NATO-Partnerländer darauf helfend reagieren können, außer mit suizidalen atomaren Konterschlägen?
Eine darüber hinausreichende, potenziell noch weit größere Gefahr stellt die Art der Wahrnehmung generell aller zivilisationsführenden Nationen durch die Mächtigen des großen Geldes dar.– Das ist einmal die als Werkzeuge, solange sich das anbietet und ansonsten die als Rivalen um die Ressourcen der Erde und um die Beherrschung ihrer Bewohner. 


Das medienweit zur Beruhigung gestreute Narrativ von der abschreckenden Wirkung einer eigenen Atombewaffnung hat dort eine klaffende Plausibilitätslücke, wo die Psychologie eines bemerkenswert unsolidarischen Personenkreises, der sich die aufwendigsten Schutzanlagen leisten kann, eine Frage aufkommen lässt: Mit welchem rationalen Argument meint man die naive Annahme stützen zu können, dass das Vereinigte Königreich nicht im Schlagabtausch mit Russland bedenkenlos geopfert würde, wenn sich damit das seit 1853 (s.o.) klar erkennbare große Ziel erreichen ließe, Russland endgültig aufzulösen? 
Das Fehlen einer vorausschauenden, auf Integration setzenden britischen Schutzpolitik rächt sich. Diese wäre schon im Kolonialzeitalter erforderlich gewesen. – Spätestens hatte die Gründung der USA den Weg gezeigt, der zur Schaffung der Vereinigten Staaten von Europa einschließlich Russlands hätte führen müssen.