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Der Fall des Richard Wershe, Jr., White Boy Rick

In Kapitel B 5. "Dilettantismus und Rassismus" wurde auch der Fall des Richard Wershe, Jr. kurz angesprochen Dort heißt es: "Wenn man Bevölkerungsgruppen am Zusammenwachsen zu einer Nation hindern möchte, gelingt das am effektivsten, indem man auf beiden Seiten Misstrauen schürt. Ein Fall, der vor allem weisse Amerikaner aufbrachte, war der des “White Boy Rick”, der in den 1980er Jahren ein großes Medienspektakel auslöste". 

Doch Art und Umfang der medialen Berichterstattung verfälschten die wahren Zusammenhänge. Den minderjährigen FBI-Geheiminformanten und lizenzierten Kokaindealer Richard Wershe, Jr. bliesen die Presse Staatsanwaltschaft zu einem angeblich großen Drogenboss auf. Es war ein Beispiel dafür, dass das große Geld nach Belieben jede noch so abwegige Story zur Wahrheit erklären und mit Inszenierungen “beweisen” kann. Dabei war die Verbiegung tatsächlich sehr derbe – nämlich die surreale Story eines weißen Jugendlichen mit Kindergesicht, der die hammerharte afroamerkanisch geprägte Drogenszene Detroits hätte beherrschen sollen. “White Boy Rick wasn’t a drug lord — he was an FBI informant. At the age of 14, the FBI taught Wershe how to deal drugs and planted him inside one of the city’s most dangerous gangs”.– White Boy Rick war kein Drogenbaron – er war ein FBI-Informant. Mit 14 Jahren brachte das FBI Wershe bei, wie man mit Drogen dealt und platzierte ihn in eine der gefährlichsten Drogenbanden der Stadt. / Mark Oliver, How “White Boy Rick” Uncovered The Largest Corruption Case In Detroit History – And Got Life In Jail, in allthatsinteresting 2018, Referenz https://allthatsinteresting.com/white-boy-rick

Das Schicksal Wershes emotionalisierte die Öffentlichkeit durch die klare Ungerechtigkeit, mit der ein 17-jähriger wegen Drogenhandels zu lebenslanger Haft verurteilt und systematisch von Bewährungschancen ferngehalten wurde, so dass er über 30 Jahre im Gefängnis verbringen musste. Erst mit den Jahren wurden die brisantern Hintergründe und Zusammenhänge des Falles erkennbar, indem kriminelle Machenschaften seitens der Polizei und der Politik ans Licht kamen. “Rick began to see the corruption when a 13-year-old boy was shot by the Curry Gang and the Detroit police did nothing about it. Their chief of homicide, Inspector Gilbert Hill, deliberately diverted the investigation away from the gang leader, Johnny Curry”. – Rick begann die Korruption zu erkennen, als ein 13-jähriger Junge durch die Curry-Bande erschossen wurde und die Polizei nichts in der Sache unternahm. Der Leiter der Mordkommission, Inspector Gilbert Hill, lenkte die Untersuchung absichtlich vom Bandenchef Johnny Curry ab. / Mark Oliver, How “White Boy Rick” Uncovered The Largest Corruption Case In Detroit History – And Got Life In Jail, in allthatsinteresting 2018, Referenz https://allthatsinteresting.com/white-boy-rick

Mit der Zeit verschafften Nachforschungen und Zeugenaussagen rund um den Fall des Richard Wershe, Jr. Einblicke in erschütternde Zustände bei den Sicherheitsbehörden, so u.a.

  • Korruption der Polizei durch Drogendealer, dadurch weitgehend ungestörte Geschäfte grosser Kokainbanden, die jeweils Stadtbezirke kontrollieren
  • Deckung dieser Polizeikorruption durch hochrangige Behördenchefs, dabei Verfilzung von Politik und Polizei – der genannte Inspektor Gil Hill war nebenbei Serienstar in Hollywood und wurde später Präsident des Stadtrates in Detroit / Vgl. Vince Wade, The “Political Corruption” Behind the Imprisonment of Richard “White Boy Rick” Wershe Jr., in ticklethewire.com 2020, Referenz https://www.ticklethewire.com/2015/09/15/the-political-corruption-behind-the-imprisonment-of-richard-white-boy-rick-wershe-jr/
  • Beteiligung aufeinanderfolgender Detroiter Oberstaatsanwälte sowie des früheren Bürgermeisters an Machenschaften gegen eine Enttarnung des korrupten Systems / Vgl. Vince Wade, The “Political Corruption” Behind the Imprisonment of Richard “White Boy Rick” Wershe Jr., in ticklethewire.com 2020, Referenz https://www.ticklethewire.com/2015/09/15/the-political-corruption-behind-the-imprisonment-of-richard-white-boy-rick-wershe-jr/

Indem Afroamerikaner als Wershes Widersacher in Erscheinung traten, lag auch ein Beispiel für das Gegeneinanderhetzen der Rassen vor. Doch gewichtiger war das Schlaglicht, welches der Fall des Richard Wershe auf Korruption in Polizei und Politik auf hoher Ebene warf. – Deren riesiges Ausmass kam indirekt zum Vorschein nämlich durch die Dinge, die nicht geschahen, aber hätten geschehen müssen – und zwar auf hoher und höchster Entscheidungsebene.

“With the exception of a few retired FBI agents with a sense of justice, federal law enforcement has remained silent about Rick Wershe to this day. They hide behind “no comment” instead of doing what they ought to do, …” – Mit Ausnahme einiger pensionierter FBI-Agenten mit einem Gefühl für Gerechtigkeit blieb die Bundespolzei im Fall Rick Wershe bis heute untätig. Sie (deren Vertreter) verstecken sich hinter “kein Kommentar”, anstatt das zu tun, was sie tun müssten. / Vince Wade, The “Political Corruption” Behind the Imprisonment of Richard “White Boy Rick” Wershe Jr., in ticklethewire 2020, Referenz https://www.ticklethewire.com/2015/09/15/the-political-corruption-behind-the-imprisonment-of-richard-white-boy-rick-wershe-jr/

Was tatsächlich hätte geschehen müssen, war außer einer rechtsstaatlich korrekten Behandlung Wershes in erster Linie die Trockenlegung des Korruptionssumpfes. Das jedoch war offenkundig politisch nicht erwünscht. Das FBI als Bundesbehörde – und diese Verallgemeinerung ist angemessen, da der Fall unionsweite Beachtung gefunden hat -- outet sich damit als eine der typischen Einrichtungen im inoffiziellen Einflussbereich des Großkapitals. Namentlich lässt sich eine deutliche Abweichung zwischen einem ethisch hohen Anspruch und dazu passender seriöser Fassade einerseits und verschleierten unethischen, kontraproduktiven Aktionen andererseits feststellen. So wie der Fall im Detail verschiedene Inszenierungen beinhaltet (wie z. B. bei der gewollt gescheiterten Begnadigungsinitiative 2003, als nach Aufruf durch die korrupte Polizei eine grosse Zahl schmuckbehangener Drogendealer im Gerichtssaal erschien und die Jury - psychologisch voraussehbar - sehr negativ gegen Wershe stimmte), stellt er auch insgesamt eine Inszenierung dar. Rechtschaffene FBI-Agenten konnten Dank Wershes exzellenter Beobachtungsgabe Erfolge im Detroiter Drogenmilieu einfahren, deren Ausmaß offenbar das Weiterfunktionieren des illegalen Handels und seiner Verfilzung mit den Ordnungskräften bedrohte.– Die erfolgreichen Beamten fanden sich am Ende von angepassten Kollegen und Vorgesetzten gemobbt, die bei einer demokratischen Überprüfung ihrer Vertrauenswürdigkeit (Kapitel A 32.) auf keinen Fall hätten bestehen können. 

Die weitreichende Schlussfolgerung aus dem Fall White Boy Rick ist die, dass Korruption die “westlichen” Demokratien insgesamt bereits viel stärker im Griff hat als es die Bürger ahnen. Es ist eine unter der Herrschaft des großen Geldes mit den Geldmengen automatisch weiterwachsende Korruption, die von den Kommunikationsmedien über Jahrzehnte hinweg ignoriert wurde, weil sie ignoriert werden sollte.

Der Fall bestätigt die konstruktive Kapitalismuskritik, wie sie in diesem Buch vorgestellt wird, in noch zwei weiteren Punkten. Richard Wershe wäre nicht Opfer des Systems geworden, wenn er nicht eine trotz seines jugendlichen Alters so aussergewöhnlich scharfe Beobachtungs- und Analysegabe bewiesen hätte. “Rick Wershe is arguably the most productive informant in the history of the Detroit Office of the FBI,” says retired Detroit FBI agent John Anthony who was the in-house legal adviser during the Wershe era. – “Man kann mit Recht behaupten, dass Rick Wershe der produktivste Informant in der Geschichte des Detroiter FBI-Büros war”, sagt der pensionierte Detroiter FBI-Agent John Anthony, welcher der hausinterne Rechtsberater während der Wershe-Ära war. / Vince Wade, The “Political Corruption” Behind the Imprisonment of Richard “White Boy Rick” Wershe Jr., in ticklethewire 2020, Referenz https://www.ticklethewire.com/2015/09/15/the-political-corruption-behind-the-imprisonment-of-richard-white-boy-rick-wershe-jr/

Es ist eine der destruktivsten Seiten der kapitalistischen Herrschaft, dass sie fähige und intelligente Menschen als potenzielle Kritiker und vermeintliche Rivalen bekämpft, andersherum ausgedrückt, dass sie die Menschen in einen Status kritikunfähiger, abhängiger Untertanen überführen möchte.

Die zweite Bestätigung für die nach vorne gerichtete Kapitalismuskritik dieses Buches kommt ausgerechnet von einem Mann, der 30 Morde gestanden hat, für die er insgesamt (nur!) 13 Jahre im Gefängnis verbracht hat. Es handelt sich um den Detroiter Auftragskiller Nate “Boone” Craft, der nach seiner Haftentlassung einen beauftragten und nur durch Zufall nicht realisierten Anschlag auf White Boy Rick freimütig zugab. Craft hatte durch seinen persönlichen Wandel vom Mörder zu einem Menschen mit viel Gerechtigkeitssinn, Aufrichtigkeit und echter Zivilourage (auch in Doku-Interviews) eindrucksvoll demonstriert, dass der Zweck des Strafvollzuges nicht in Vergeltung, sondern in nachhaltiger charakterlicher Neuprogrammierung bestehen muss - und dass er erreichbar ist. “Craft laughs at the notion that this white kid with a peach-fuzz moustache was giving orders to black adult dope slingers. >He ain’t run us,< Craft said. >He wasn’t no top dog.<” – Craft lacht bei der Vorstellung, dass dieser weisse Jugendliche mit seinem Pfirsichflaum-Schnurrbart erwachsenen schwarzen Kokaiondealern Befehle geben würde. “Er hätte uns nicht führen können”, sagte Craft. “Er war kein Boss”. / Vince Wade, The “Political Corruption” Behind the Imprisonment of Richard “White Boy Rick” Wershe Jr., in ticklethewire 2020, Referenz https://www.ticklethewire.com/2015/09/15/the-political-corruption-behind-the-imprisonment-of-richard-white-boy-rick-wershe-jr/